«Wir möchten zeigen, wie es anders gehen kann»tun & lassen

Das neunerhaus will das Grundrecht auf Wohnen für alle ermöglichen

Umgang mit Obdachlosigkeit bedeutet mehr als ein Dach über dem Kopf zu bieten. Wohnen so normal wie möglich und die Orientierung an den Bedürfnissen der Betroffenen sind grundlegende Ansätze der Arbeit des neunerhauses. Lisbeth Kovacic (Fotos) und Jenny Legenstein (Interview) trafen Elisabeth Hammer, fachliche Leiterin und Chefin des Bereichs Grundlagen & Entwicklung im neunerhaus.

Foto: Lisbeth Kovacic

Das neunerhaus gibt es seit 1998. Es ist aus einer Initiative von Bürger_innen entstanden, die auf Aussagen von Bürgermeister Häupl reagierten, wonach in Wien alle Obdachlosen versorgt seien und es kein Problem gäbe. Tatsächlich gab es aber damals z. T. grobe Missstände in einigen Einrichtungen und veraltete Konzepte im Umgang mit Obdachlosigkeit.

Elisabeth Hammer: Wien hat eine Tradition, dass es Bemühungen gab, den Leuten ein Dach über dem Kopf zu bieten, eine Art Herberge. Eine Frage, die das neunerhaus aufgegriffen hat, war: Wie müssen die Angebote gestaltet sein, damit sie die Bedürfnisse der Leute punktgenau treffen? Ich glaube, dass die Struktur gerade zu der Zeit als das neunerhaus gegründet wurde, wenig dem entsprochen hat, was Menschen über einen Schlafplatz hinaus in ihrem Leben wollten. Damit meine ich Dinge wie Privatsphäre, die Möglichkeit, Besuch zu empfangen in den eigenen vier Wänden, auch Alkohol konsumieren zu dürfen, mit Haustieren zu leben und anderes. Da haben die letzten Jahre viele Veränderungen gebracht. Ich denke, da war und ist das neunerhaus immer noch federführend.

Augustin: Das Angebot vom neunerhaus ist ja relativ umfassend. Es bietet z. B. auch medizinische Betreuung und ein individuelles Zugehen auf die Personen.

EH: Was wir mit unseren Angeboten versuchen, ist einerseits, auf sozialpolitische Lücken aufmerksam zu machen oder, anders gesagt, auf Entwicklungsmöglichkeiten. Wir möchten zeigen, wie es anders gehen kann. Wie anders mit Menschen umgegangen werden kann. Wie Angebote gestaltet werden können, damit sie besonders gut auf Bedürfnisse der Menschen reagieren.

Auch beim Angebot «Housing First», das wir 2012 gemeinsam mit der Stadt und dem FSW nach Wien geholt haben, wollen wir zeigen, dass für den Großteil der Menschen, die einmal obdachlos wurden, eigenständig Wohnen ein passendes Angebot ist, wenn sie zusätzlich die Unterstützung haben, die sie brauchen.

Bedürfnisse nicht über einen Kamm scheren

Augustin: Wahrscheinlich wünscht sich jede_r Obdach- oder Wohnungslose eine eigene Wohnung. Über «Housing First» wurden rund 70 Wohnungen vermittelt, ich nehme an, es gibt aber einen viel größeren Bedarf.

EH: Vorab, ich glaube, dass sich die große Mehrheit der obdach- und wohnungslosen Menschen eine eigene Wohnung wünscht, aber man muss aufpassen, nicht alle Bedürfnisse über einen Kamm zu scheren. Es gibt Personen, die sich in einem institutionellen Setting sicherer fühlen.

Ich finde es gut, dass es in Wien differenzierte Angebote gibt. Das sehe ich ähnlich wie beim Wohnen insgesamt. Manche wollen lieber in einer WG wohnen, manche wollen in einer anderen gemeinschaftlichen Wohnform leben, andere wollen wirklich allein wohnen.

Wir sind in Wien mit steigenden Wohnkosten konfrontiert, sodass leistbares Wohnen über obdachlose und wohnungslose Menschen hinaus eine der brennendsten politischen Fragen der Zukunft ist.

Augustin: Im neunerhaus werden außer im Housing-First-Projekt wesentlich mehr Männer als Frauen betreut. Ihr verfolgt aber einen gendergerechten Ansatz, wie sieht der aus?

EH: Wir wollen sensibel sein für unterschiedliche Arten von Differenzen: Da spielt Geschlecht eine Rolle, da kann Migration eine Rolle spielen, Gesundheit, Kinder, Gewalterfahrung und, und, und. Wir wollen sensibel sein für diese Unterschiedlichkeiten, und Geschlecht ist eine wesentliche. Was wir vermeiden wollen, ist, dass wir gewisse Kategorien homogenisieren und von den Frauen sprechen, die diese und jene Bedürfnisse haben oder diese biografischen Hintergründe im Gegensatz zu den Männern, die beispielsweise immer ohne Kinder gedacht werden.

Augustin: Es gab lange auch in der Fachwelt für Obdachlose zum Teil aus der NS-Zeit stammende Zuschreibungen wie unstet, asozial. Dabei ist die Ursache von Obdachlosigkeit fast immer Armut und nicht Folge einer bestimmten «Charaktereigenschaft».

EH: Ich teile die Sicht, dass Obdachlosigkeit historisch eng verknüpft war mit einer Zuschreibung von kriminellem Verhalten, Vagabundismus und als Problem der öffentlichen Ordnung angesehen wurde. Auch in der Gegenwart sind wir nicht ganz frei davon. Vertreibungen von obdachlosen Menschen, seien sie Bettler_innen oder keine, von öffentlichen Plätzen, spiegeln wider, dass es da Kontinuitäten gibt. Aber zumindest in der Fachwelt hat sich durchgesetzt, dass Wohnungslosigkeit aus einer Armutslage entsteht. Daneben war der sozialpolitische Zugang lange einer, der davon ausgegangen ist, die Expert_innen wüssten, was gut für die Personen ist, die unserer Hilfe bedürfen. Ich bin froh über den Paradigmenwechsel, dass es nicht um Hilfe für Bittsteller_innen geht, die mit Scham und Sühne unsere Almosen entgegennehmen, sondern um Menschen wie wir, denen wir auf Augenhöhe ein Recht zugänglich machen, das für uns alle ein wesentliches Grundrecht ist: Wohnen.

Keine Zwei-, Drei-, Vier-Klassen-Wohnungslosenhilfe

Augustin: Was sind die Herausforderungen oder auch Forderungen für die nächste Zeit, für die Zukunft, auch an die Politik?

EH: Nach wie vor sehen wir uns nicht in der Rolle als reiner Dienstleistungserbringer, sondern als sozialpolitisch tätige Organisation, mit dem Selbstverständnis Sozialpolitik mitzugestalten. Wir machen das einerseits über spezielle und innovative Angebote, die sozialstaatliches Handeln weiterbringen sollen und mit denen wir ein Statement setzen möchten. Andererseits versuchen wir auch, Interessen von armutsgefährdeten und wohnungslosen Menschen aufzugreifen und öffentlich zu vertreten. Das Thema leistbares Wohnen wird ein Zukunftsthema sein und ist es schon in der Gegenwart. Wir sprechen uns unter anderem dafür aus, dass die Möglichkeiten zu Befristungen bei Mietverträgen drastisch reduziert werden.

Eine Gefahr für die Zukunft, die ich sehe, ist, dass es zu stärkeren Differenzierungen von Menschen kommt, die obdach- und wohnungslos sind. Uns ist wichtig, dass es nicht zu einer Zwei-, Drei-, Vier-Klassen-Wohnungslosenhilfe kommt, sondern ein möglichst hohes qualitätsvolles Angebot mit niederschwelligem Zugang vorhanden ist, unabhängig davon, ob die Menschen einen österreichischen Pass haben oder nicht, ob sie versichert sind oder nicht, ob sie derzeit Flüchtling sind oder Personen, die auf der Suche nach Arbeit nach Wien kommen.

neunerhaus

Hilfe für obdachlose Menschen

Das neunerhaus ist eine Wiener Sozialorganisation, die obdachlosen Menschen ein selbstbestimmtes und menschenwürdiges Leben ermöglicht. Das Angebot umfasst Übergangs- und Dauerwohnmöglichkeiten (Wohnhäuser in der Hagenmüllergasse, Billrothstraße, Kudlichgasse). «Housing First» (seit 2012 ) ermöglicht es wohnungslosen Personen, ohne den Umweg des Wohnens in einer betreuten Einrichtung, in normalen Mietwohnungen zu leben. Zudem bietet das neunerhaus medizinische Betreuung, die auch von Menschen ohne Krankenversicherung in Anspruch genommen werden kann, eine Zahnarztpraxis sowie veterinärärztliche Versorgung von Tieren von obdachlosen Menschen.

Margaretenstraße 166/1. Stock, 1050 Wien

Tel.: (01) 990 0909 900

www.neunerhaus.at

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