«Wir räumen mit Vorurteilen auf»tun & lassen

Die Backstreet Guides führen auf Grätzltouren durch Wien. Dazu haben sie einen gemeinnützigen Verein gegründet und arbeiten in Eigenregie. Als ehemals Obdachlose zeigen sie die Stadt aus ihrer Perspektive.

Text: Jenny Legenstein
Fotos: Nina Strasser

Wie jeden Montag um die Mittagszeit treffen sich die Backstreet Guides zu ihrem wöchentlichen Jour Fixe im 6. Bezirk. Die Backstreet Guides, das sind Sandra, Angelo, Michi, Ferdinand, Rudi, und demnächst beginnt auch Hedi mit einer eigenen Grätzltour.
An einem großen Resopaltisch in ­einem Büro im Mutterhaus der Barmherzigen Schwestern halten die Guides ihr Vereinsmeeting ab. Auf dem Kasten an der Wand ist der Text des Simon & Garfunkel-Hits Like A Bridge Over Troubled Water auf farbiges Papier gedruckt und aufgeklebt. Thematisch passt der Song auch zu den Guides; von «When you’re down and out / When you’re on the street» können auch sie ein Lied singen. Schließlich sind sie alle ehemals Obdachlose, die Stadtführungen – Grätzltouren – zum Leben auf der Straße, Armutsbetroffenheit und den eigenen Erfahrungen damit durchführen. Im August des Vorjahres hat die Gruppe einen gemeinnützigen Verein gegründet, um ihre besonderen Touren ­eigenständig durchführen zu können. «Wir machen die Stadtführungen selbstständig, selbstverantwortlich, selbstverwaltet, selbstfinanzierend», erklärt Sandra, Obfrau des Vereins und als Guide im 2. und 8. Bezirk unterwegs. Hinter den Backstreet Guides stehen keine größere Organisation oder Institution, Geldgeber_innen oder Förderungen. Wer an einer Tour teilnimmt, spendet ein paar Euro (empfohlen sind zwischen zehn und 17 Euro, siehe auch Info auf Seite 9). Aus diesen Einnahmen finanziert der Verein den Druck von Info-Foldern und Visitenkarten, als nächstes werden Bänder für die Guide-Ausweise angeschafft.

Öffentlichkeit schaffen.

Bei ihrem wöchentlichen Treffen besprechen die Backstreet Guides Organisatorisches, gleichen Termine ab und tauschen sich über Allfälliges aus. Welche Touren wurden gebucht? Wie sind vergangene Führungen gelaufen? Gibt es interessante Veranstaltungen, wo mensch sich vernetzen und / oder Information über das Angebot der Guides verbreiten kann oder wo es sonstiges Hilfreiches zu erfahren gibt? Auch Medienauf­tritte werden nachbesprochen. Sie waren schon bei Barbara Karlich und beim Bürgeranwalt, und just am 24. Dezember Gäste auf Radio Wien. Es geht darum, Öffentlichkeit zu schaffen, Leute anzusprechen, Aufmerksamkeit zu erlangen. Public Relations hat keine_r von ihnen gelernt. «Wir müssen unsere PR erst aufbauen, uns das Wissen aneignen», meint Ferdinand. «In der Werbung werden wir langsam effizienter.» Wenn es wärmer wird, findet er es gut, etwa auf Kirtagen einen Infostand zu haben, um die Möglichkeit zu haben Leute anzusprechen, die an ihren Stadtführungen in­teressiert sein könnten. Auch Angelo fallen mehrere Veranstaltungen ein, wo es sich lohnen könnte, Infomaterial zu verteilen und mit Leuten ins Gespräch zu kommen. «Wir ‹belästigen› manche Leute wie zum Beispiel im Rathaus oder im Bundesministerium per E-Mail, per Brief, wir schauen, dass wir die Leute irgendwo treffen und sie persönlich ‹belästigen› », sagt Ferdinand mit ironischem Unterton.
Eine Homepage betreiben die Backstreet Guides natürlich auch, es gibt einen eigenen YouTube-Kanal, und auf allen möglichen Social-Media-Plattformen sind sie ebenfalls aktiv – Facebook, Instagram, Twitter – «und auf TikTok bin ich noch am Lernen», sagt Sandra. Welche Werbemaßnahme wirkt, lässt sich schwer abschätzen, dass aber die meisten Buchungen aufgrund von Mundpropaganda zustande kommen, ist eine Tatsache. Leute, die bei einer Grätzlführung dabei waren, erzählen davon im Freundes- und Bekanntenkreis oder in der Arbeit und machen andere neugierig auf die Backstreet-Touren.

Schulklassen, Tourist_innen, hier Lebende.

«Quer durchs Gemüsebeet» seien die Teilnehmer_innen der Grätzlführungen auszumachen: Schulklassen, oft aus Tirol oder Vorarlberg, und sogar aus Deutschland, die sich auf Wienwoche befinden, machen mit. Tourist_innen, aber auch in Wien Lebende, die ihre Stadt aus einer anderen Perspektive kennenlernen möchten, buchen die Guides, zudem Firmen, die einen Betriebsausflug machen oder die, statt eine Weihnachtsfeier zu veranstalten, an so einem besonderen Stadtrundgang teilnehmen. Während des letzten ­Corona-Lockdowns war so gut wie gar nichts los, mit den Öffnungen und den milderen Temperaturen trudeln die Anfragen jedoch langsam wieder ein.
Jeder Guide hat eine eigene Route – «Tour» genannt – auf der er oder sie Besucher_innengruppen durch die Bezirke Wiens führt. Etwa zwei Stunden dauern die Touren jeweils, in Kilometern gemessen sind sie nicht allzu lang, es gibt an den einzelnen Stationen aber immer einiges zu erzählen und genug Raum, um Fragen zu stellen und diese auch zu beantworten. Michi ist in Meidling unterwegs, Ferdinand in seinem absoluten Lieblingsbezirk Ottakring. Rudi ist derzeit leider in Krankenstand, arbeitet aber im Hintergrund mit. Wenn er fit ist, bringt er jenen, die ihn auf seiner Tour begleiten, seine Geschichte im 6. sowie am und um den Naschmarkt herum näher. Sandras Tour führt durch die Leopoldstadt, mit Angelo geht sie gemeinsam auf einer Duo-Tour durch den 8. (mehr dazu auf Seite 9). Weitere Duo-Touren macht Sandra mit ihrer Schwester Renate und mit Petra Unger, der Gründerin der Wiener Frauen*Spaziergänge.

Alternativen zum Abklappern.

Stadt­führungen «von unten» als Alternative zum Abklappern von Sehenswürdig­keiten oder auch, um die eigene Stadt besser kennenzulernen, sind international seit Jahren erfolgreich. Oft werden sie von Straßenzeitungen organisiert, so zum Beispiel zeigen Verkäufer_innen des Hamburger Hinz & Kunzt die Hansestadt aus ihrer Sicht, auch Verkäufer_innen der Schweizer Straßenzeitung Surprise führen Interessierte durch verschiedene eidgenössische Städte. In Linz bietet die Straßenzeitung Kupfermuckn ­soziale Stadtführungen an. Unter dem ­Titel Strawanzereien organisierte auch der Augustin Stadtspaziergänge, auf denen Kolporteur_innen der ersten österreichischen Boulevardzeitung Ausschnitte ihres Wiens vorstellten.
Darüber hinaus gab und gibt es verschiedene Firmen und Initiativen, die Stadtführungen zum Thema Obdachlosigkeit veranstalten. Eine davon war der Verein Supertramps, der von einer gemeinnützigen Stiftung getragen wurde. Sandra, Rudi, Angelo & Co. waren bei den Supertramps als Guides von sozialen Stadttouren tätig. Im Vorjahr beschlossen sie allerdings sich selbstständig zu machen, gründeten im August ihren eigenen Verein und bieten seit November als Backstreet Guides ihre Touren an. «Wir führen uns selbst weiter», erläutert ­Ferdinand. «Im Rahmen von Supertramps wurde jede Tour von uns entwickelt. Es gab Unterstützung von der Stiftung, aber im Prinzip präsentieren wir uns selbst, nichts anderes.» Sandra ergänzt: «Wir haben unsere Touren immer selbst erstellt. Wir haben auch selbst entschieden, was wollen wir preisgeben, was nicht, natürlich nicht das ganze Leben, sondern nur Episoden.»

Selbstbewusst und authentisch.

Anhand der eigenen Lebensgeschichte gehen die Guides mit den Teilnehmer_innen entlang verschiedener Routen, weisen auf Schlaf-, Ruhe- und Aufenthaltsmöglichkeiten im öffentlichen Raum hin, zeigen Anlaufstellen für wohnungs- und obdachlose Menschen (Beratungsstellen, Notschlafstellen, Essensausgabestellen etc.) und machen auf Orte und Ecken in der Stadt aufmerksam, die für sie besonders sind. Dabei geht es aber nie darum, Mitleid zu erregen, sondern vor allem darum, Aufmerksamkeit und Sensibilität für das Thema Obdachlosigkeit und Armutsbetroffenheit zu wecken. «Wir haben uns nie als bedürftig, als notleidend präsentiert. Wir haben uns wie Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Schlamm herausgezerrt und das hat uns auch viel an positivem Feedback gebracht», erzählt Ferdinand. Die Guides sind selbstbewusst und authentisch, das kommt bei den Führungen an, und zwar sehr gut. «Nicht: Ich war so arm und obdachlos, sondern man soll auch zeigen, dass wir eine Intelligenz haben. Wir räumen mit den Vorurteilen auf, wir seien dumme Menschen. Wir ­haben einfach Pech gehabt im Leben und das kann einem Bankdirektor genauso passieren wie einer Kassierin beim Billa», nimmt Sandra den Faden auf. Niemand sei gefeit vor Armut und Wohnungsverlust, darauf wollen die Backstreet Guides mit ihren Angeboten aufmerksam machen. Aber auch darauf, welche Wege es aus der Obdachlosigkeit gibt und wohin sich jemand in Schwierigkeiten wenden kann, bevor sie oder er auf der Straße landet.
Oft würden Gäste, die bei einer Tour dabei waren, sie kontaktieren – eine Freundin sei in einer schlimmen Lage, was könne man tun. Da helfe man mit Tipps und Kontakten weiter. Daher planen die Guides, auf ihrer Homepage eine Plattform mit Informationen zu Armut und Obdachlosigkeit aufzubauen. «Wir haben so viele Interessen – wir gehen das step-by-step an», so Sandra. Und Ferdinand bringt die zentrale Absicht des Vereins nochmals auf den Punkt: «Das Hauptanliegen der Backstreet Guides wird immer sein, dass wir Verständnis für Notsituationen in der sogenannten Normalpopulation erwecken wollen. Ihr könnt’s da morgen detto sein.»

Kontakt: office@backstreet-guides.at
Info: www.backstreet-guides.at