1. Mai 2020: 600.000 Arbeitslose und kein Aufmarsch, der sie feiert. Bringt Corona zwingend so viele Arbeitslose mit sich? Und wer ist eigentlich ihre politische Vertretung?
Text: Lisa Bolyos, Fotos: Kay von Aspern
«Für mich ist die Situation hart», sagt Esther Feuchtenberger. Seit
Covid-19 im gesellschaftlichen Bewusstsein angekommen ist und sich in Verordnungen und Maßnahmen niederschlägt, ist sie arbeitslos. Als selbstständige Ayurveda-Masseurin kann sie während einer Pandemie nicht tätig sein, der geringfügige Zuverdienst als Putzfrau in einer Kindergruppe muss sie gemeinsam mit der Notstandshilfe durch die Krise bringen. Auszahlung des Arbeitslosengeldes steht ihr, obwohl sie vor der Selbstständigkeit und vor Schwangerschaft und Karenz lange angestellt war, keine mehr zu. Ihr Gewerbe hat sie auf Anraten der Wirtschaftskammer ruhend gestellt, sodass sie sich beim AMS melden konnte – in Folge aber nicht vom Härtefallfonds profitiert. Wobei «profitieren» ohnehin ein zu großes Wort für eine kleine Sache ist, denn die einmalige Zahlung von 1.000 Euro hätte für Feuchtenberger das Kraut nicht fett gemacht. «Könnte ich nicht auf die Unterstützung meines Partners zählen, hätte ich die Praxis zusperren müssen.»
Tag der Arbeitslosen.
Im Mai 2019 lag die Erwerbsarbeitslosigkeit in Österreich bei 6,8 Prozent, dazu kommen noch Leute in AMS-Schulungen. Ein Jahr später wurde mit Corona trotz dem breiten Zuspruch, den das Kurzarbeitsmodell fand, die 12-Prozent-Marke bei der Arbeitslosigkeit durchbrochen. Rund 600.000 Menschen sind arbeitslos gemeldet. Das gäbe am 1. Mai einen beeindruckenden Marsch, aber der ist ja abgesagt. Dabei, sagen böse Zungen, hätte man angesichts der Mitgliederzahlen der SPÖ sogar mit der gebotenen 1-Meter-Distanz den Ring entlangmarschieren können.
Offiziell wird der «Tag der Arbeitslosen» am 30. April begangen, einen Tag vor dem «Tag der Arbeit». Heuer ist die Unterscheidung hinfällig, die Klientel gehörig durcheinandergeschüttelt. «Die neuen Arbeitslosen der Coronakrise empfinden diese Phase als etwas Vorübergehendes», sagt Margit Schaupp von der Grazer Arbeitsloseninitiative AMSEL auf die Frage, ob es viel Zulauf gebe. Und ja, bestätigt sie, auch die meisten Langzeitarbeitslosen hätten einmal so gedacht. Arbeitslosigkeit sei die Erfahrung einer «Schockstarre», aus der man sich erst mit der Zeit lösen könne, um Perspektiven zu entwickeln. Trotzdem gibt es in der Einzelberatung dieser Tage alle Hände voll zu tun. «Es fehlt allen Betroffenen an Rechtssicherheit», sagt die AMSEL-Obfrau, «Werden Sanktionen ausgesetzt? Muss man Eigenbewerbungen nachweisen? In den Medien wird alles Mögliche berichtet, die Leute sind verunsichert.»
Genug zum Leben. Medial kolportiert wird auch die Forderung des Österreichischen Gewerkschaftsbundes, die Nettoersatzrate, sprich: das Arbeitslosengeld, von 55 auf 70 Prozent zu erhöhen. Ein Thema, das der ÖGB schon länger im Portfolio hat, bestätigt Anna Daimler, Generalsekretärin der Verkehrs- und Dienstleistungsgewerkschaft vida, aber den Widerstand schätzt sie auch in der jetzigen Krise sehr hoch ein. Nicht nur die Lohnabhängigen fürchten Verarmung, auch das Kapital zittert vor Einbußen – und weiß sie zu verhindern.
«Von 55 Prozent eines ohnehin schon niedrigen Einkommens kann man nicht leben», sagt Margit Schaupp. «Dann rennt man um die Förderung und den Zuschuss und stottert sich sein Auskommen zusammen, wird da abgewiesen, stellt sich dort wieder an, anstatt einfach auf einen Schlag genug zum Leben zu bekommen.» Genug zum Leben, ohne Anträge und Beweise, das wäre für Schaupp ein bedingungsloses Grundeinkommen. «Dass das Arbeitslosengeld wohl jetzt mal ausgezahlt wird, ohne die Leute mit Schulungen und Vermittlungen an Arbeitsstellen zu quälen, die nichts mit ihrer Qualifikation oder ihren Wünschen zu tun haben, ist zumindest ein Schritt in die richtige Richtung», findet der Wiener Arbeitsrechtler Martin Risak. Dem großen Einkommenseinbruch entgehe man damit aber nicht. «Es hätte ja die Möglichkeit gegeben, das Epidemiegesetz nicht zu ändern, und den Ausfall der Unternehmen zu ersetzen. Stattdessen hat man verschiedene Töpfe mit verschiedenen Kriterien geschaffen, für die man sich bewerben muss. Das wird für viele kleine Unternehmen bedeuten, dass sie schwer oder nicht durch die Krise kommen.»
Hätte man das Epidemiegesetz nicht geändert, wären behördlich geschlossene Betriebe für die erlittenen Verluste voll entschädigt worden und könnten Gehälter fortzahlen. Vidaflex, eine Gewerkschaftsinitiative für Ein-Personen-Unternehmen und Selbstständige, hat sich zu einem Gemeinschaftsverfahren entschieden, in dem in letzter Instanz der Verfassungsgerichtshof feststellen muss, ob die Gesetzesänderung verfassungskonform war oder die Betriebe Rechtsanspruch auf Entschädigung haben. Andernfalls rechnet Daimler «mit einem enormen Anstieg von Insolvenzen. Weil irgendwann muss alles, was gestundet wird, auch wieder bezahlt werden.» Auch die Vermieterin der Praxis von Esther Feuchtenberger hat eingewilligt, einen Teil der Miete zu stunden – momentane Erleichterung, aber: «Wenn ich wieder in die Selbstständigkeit einsteige, tu ich das mit Schulden. Dabei war es immer mein Vorsatz, keine Schulden zu machen.»
Auf die vielzitierte Krise als Chance hätte sie gerne verzichtet. Sie hat zwar genug Ressourcen, um die Zeit, die jetzt der Familie zur Verfügung steht – «auch die Zeit, zu streiten und dann wieder zur Ruhe zu kommen» –, zu genießen. Aber finanzielle und Wohnsicherheit sind für Feuchtenberger zentral. Die Obdachlosigkeitserfahrung, die sie als Jugendliche im Wien der späten 1990er-Jahre gemeinsam mit ihrer Mutter machen musste, das Warten, Bitten, Suchen, die fehlende Befriedigung basaler Bedürfnisse, hat sich in ihr Bewusstsein eingeschrieben: «Ich verdiene gern gutes Geld, ich habe gern genug Essen zu Hause und bezahle meine Rechnungen. Positiv gesehen: Ich verfalle in einer Situation, in der es finanziell knapp wird, nicht in Panik. Ich weiß, ich kann das schaffen. Aber ich weiß auch: Ich will das nicht noch einmal erleben.»
Alte Probleme mit neuer Relevanz.
Bei der Gewerkschaft vida wird es dieser Wochen nicht fad: Gesundheit, Tourismus und Luftfahrt gehören zu den vertretenen Branchen. Aber nicht alle Probleme, mit denen die Menschen in die (Telefon-)Beratung kommen, sind krisenbedingt. «Natürlich geht es um Kurzarbeit, Kündigungen oder die Frage, ob eine Wiedereinstellungszusage einen Rechtsanspruch mit sich bringt – die Antwort ist nein. Aber dass man im Krankenstand gekündigt werden kann, ist ein Problem, das wir schon lange mit uns herumschleppen, und das jetzt halt mehr Relevanz hat.» Auch dass Angestellte in saisonalen Branchen keine Absicherung haben, die sie durch die Saisonpausen bringt, oder in der Gastronomie das Grundgehalt zu niedrig ist, man erst durch Trinkgeld und vielleicht sogar nicht angemeldete Tätigkeiten ein ausreichendes Monatseinkommen hat, sich all das aber nicht im Arbeitslosengeld widerspiegelt, ist laut Daimler ein alter Hut.
Am härtesten trifft es jedoch die, die gar nicht abgesichert sind: Undokumentierte Arbeit ist in Branchen wie Gastronomie und Bau keine Seltenheit. «Wie in jeder wirtschaftlichen Abschwungsituation gilt: Die prekär Beschäftigten sind die Ersten, die darunter leiden. Je weniger Rechte mit einem Arbeitsverhältnis verbunden sind, desto schneller ist der Job weg», sagt Philip Taucher von der UNDOK-Anlaufstelle im ÖGB, die in solchem Fall Beratung und Begleitung anbietet. «Sich jetzt gegen Arbeitsausbeutung zu wehren ist noch schwieriger als sonst, die Abhängigkeit noch größer», ergänzt Tauchers Kollegin Vina Yun. Denn während der Rechtsweg im Krisenbetrieb des Arbeits- und Sozialgerichts noch länger dauert als sonst, sind Jobalternativen rar gesät. «Leute rufen in der Beratung an und sagen, ihr Arbeitsverhältnis wurde beendet, und sie können weder zurück ins Herkunftsland reisen noch eine neue Arbeit suchen. Da ist Verarmung vorprogrammiert.»
Die UNDOK-Anlaufstelle ist 2014 aus dem Bemühen einer Gruppe von Aktivist_innen entstanden, undokumentierte Arbeit zum Gewerkschaftsthema zu machen. Bei der Mayday-Parade, dem alternativen 1.-Mai-Aufmarsch, der sich weniger das nationale Industrieproletariat als die Prekären aller Länder zum Subjekt gemacht hat, wurde ein eigener Schutzheiliger angebetet: «Oh heiliger Prekario! Beschützer unser, der Prekären dieser Erde. Gepriesen sei die Krise des Kapitalismus, dessen Ende und das schöne Leben komme. Ein Wunder geschehe!»
Wird nach der Krise alles anders?
Der Tag wird kommen, da haben die Geschäfte wieder offen und die Kindergärten auch, der Handel floriert und die Industrie produziert – ob das sozial und ökologisch sinnvoll ist, sei dahingestellt. Trotzdem wird es nicht für alle sein wie vorher. «Wenn die öffentliche Hand nicht gegensteuert, wird es nachhaltig mehr Arbeitslosigkeit geben», meint Daimler.
Die Gewerkschaft ist die Vertretung der Arbeitnehmer_innen, Arbeitslose gehören nicht dazu. Aber zumindest hier könnte die Krise Motor kleiner Veränderungen sein. «In der vida vertreten wir Beschäftigte aus einigen Branchen, in denen hohe Fluktuation herrscht und temporäre Arbeitslosigkeit Teil des Alltags ist. Diese Interessen müssen wir in den ÖGB hineintragen, auch gegen interne Widerstände», sagt Daimler, die auch im Verwaltungsrat des AMS sitzt. Vertretungen der Arbeitslosen selbst, meint Margit Schaupp von AMSEL, fehlen in allen Gremien – vom AMS über die Landesregierungen bis zum Corona-Krisenstab.
Esther Feuchtenberger möchte sich noch in der Krise ein zweites Standbein sichern. Sie denkt an eine Ausbildung zur Ordinationsassistentin. Feuchtenbergers Biografie ist ein Beispiel dafür, wie Verarmung Teil eines ganz gewöhnlichen Lebens wird: «Meine Mutter hat sich scheiden lassen und wir standen mit nichts da. Es gab Zeiten, da haben wir vier Tage gemeinsam von einer großen Packung Soletti gelebt», erzählt sie. Krisen führen Menschen, die kein ökonomisches Backup in Form von Rücklagen, wohlhabenden Familien, Grundbesitz oder ausstehendem Erbe haben, vor Augen, wie schnell der Abstieg gehen kann. Genau dieses Wissen müsste Teil des Corona-Managements sein.