Wir sind die 9 Prozenttun & lassen

Kleidervorschriften, Fußfesseln, Mindestlohn – ein Regierungsprogramm

Frauen wird gesagt, was sie (nicht) anziehen dürfen, ein «Verdacht auf einen Verdacht» hebt die Unschuldsvermutung auf, und der soziale Wohnbau soll in Zukunft Gewinn bringen. Aber zumindest darf man gegen all das weiterhin demonstrieren! Ruth Weismann und Lisa Bolyos haben Expert_innen zum Arbeitsprogramm der Bundesregierung befragt. Mitarbeit: Christof Mackinger

Foto: Mehmet Emir

Neun Prozent trauen sich zu, den Kanzler_innenjob zu machen. Das zeigen Umfrageergebnisse, die «Der Standard» kürzlich veröffentlichte. Diese neun Prozent, analysiert Conrad Seidl am 6. Februar im selben Blatt, «neigen wohl eher zur Selbstüberschätzung». Wir haben lange Tage mit der Lektüre des «Arbeitsprogramms der Bundesregierung 2017/18» verbracht. Dabei haben wir viel über die Ahnungslosigkeit von (durchwegs freundlichen) Pressesprecher_innen gelernt und ein bisschen etwas darüber, was in dieser Legislaturperiode noch auf uns zukommen könnte. Unser Fazit: Wenn das Regierungsarbeit ist, oh doch, dann können wir das besser.

 

Euren Beitrag wollen wir nicht

Obwohl der Maßnahmenvollzug novelliert werden soll, ein ganzes Reformprogramm für den ländlichen Raum erarbeitet wird und die Einführung eines Mindestlohns zur Debatte steht, wird am allerheißesten über jene zwei Absätze diskutiert, die Kleidervorschriften für Frauen einführen sollen: das «Neutralitätsgebot im Öffentlichen Dienst» und das «Verbot der Vollverschleierung». Warum? Weil an diesen Punkten klar wird, in welchem politischen Kontext das Programm geschrieben wurde. Es ist keine Zeit der innovativen Neuerungen, sondern eine der tiefsten Reaktion. «Ich kann nicht glauben, dass wir 2017 Frauen per Gesetz Kleidungsvorschriften machen», kommentiert die Aktivistin Dudu Kücükgöl. Vor allem Staatssekretärin Muna Duzdar musste in den vergangenen Tagen medial Rede und Antwort stehen und erklären, warum das Tragen muslimischer Frauenkleidung eingeschränkt werden soll. Stimmt gar nicht!, wird sie nicht müde zu behaupten, im ganzen Regierungsprogramm stehe nicht ein einziges Mal das Wort «Kopftuch».

Also stellen wir die Frage anders: Wieso wird das «Neutralitätsgebot im Öffentlichen Dienst» im Kapitel «Sicherheit und Integration» verhandelt? Wer soll sich da wo neutral integrieren? Der Polizist, der wegen seiner Glatze an einen Rechtsradikalen denken lässt? Die Richterin, die einen SPÖ-Kugelschreiber in der Brusttasche trägt? «Unter Richtern und Richterinnen herrscht nach meinem Eindruck breiter Konsens darüber, dass im Gerichtssaal Neutralität zu wahren ist», sagt der Wiener Richter Oliver Scheiber. «Das heißt: keine Partei-Abzeichen am Revers und kein Kreuz am Ketterl oder an der Wand. Dass sich alles wieder auf eine Kopftuchdebatte reduziert, finde ich einfach nur ärgerlich.»

Kleiderrichtlinien für Richter_innen gibt es auch ohne das Glanzstück der neuen Bundesregierung. «Allerdings kommen die aus einer Zeit, als nur Männer Richter werden konnten. Sie schreiben unter anderem weißes Hemd, dunklen Anzug, schwarze Krawatte, Talar und ein Barett vor. Ob man darunter ein Kopftuch tragen darf oder nicht, ist nicht gesagt.» Sich im Fall des Falles gegen Diskriminierung zu wehren, ist derzeit schwierig, da explizite Regelungen fehlen und die Nichtaufnahme in den Richter_innendienst in der Regel mit mangelnder fachlicher Qualifikation begründet wird. Betroffene müssten dann erst einmal nachweisen können, dass es am Kopftuch lag. Auch Dudu Kücükgöl ärgert sich weniger über die Forderung nach neutralem Auftreten im Staatsdienst als über die Tatsache, dass «die Regierung mit diesem Verbot gerade jungen Frauen, die sich in den Dienst der Gesellschaft stellen wollen, signalisiert: ‹Ihr gehört nicht dazu. Wir wollen euren Beitrag nicht.› Das ist natürlich ein katastrophales Signal.»

 

Aus für Hipsterbärte?

Geht es nach dem «Anti-Gesichtsverhüllungsgesetz», das gerade in der Begutachtungsphase ist und mit 1. Juli in Kraft treten soll, so wird zum Zweck der «Förderung von Integration durch die Stärkung der Teilhabe am gesellschaftlichen Zusammenleben» bestraft, wer in der Öffentlichkeit «seine Gesichtszüge durch Kleidung oder andere Gegenstände in einer Weise verhüllt oder verbirgt, dass sie nicht mehr erkennbar sind». Vollbart? Sonnenbrille? Nein, richtig geraten: Verschleierung. Dem Niveau, auf dem im Arbeitsprogramm argumentiert wird, kann man nur mit Fremdschämen begegnen: Vollverschleierung sei nicht mit einer «offenen Kommunikation» vereinbar, die aber wiederum Voraussetzung für «unsere offene Gesellschaft» sei. «Offene Kommunikation bedeutet für mich, dass man sagt, was man meint, und nicht rechtspopulistische Maßnahmen hinter schönem Politsprech ‹verschleiert›.», spöttelt Dudu Kücükgöl.

Dabei weht im Land der Präambeln auch durch jene des Arbeitsprogramms beinahe ein Lüftchen des Empowerments: «In unserem Land darf es keine Regionen geben, in denen Frauen am Abend Angst haben, auf die Straße zu gehen.» Das sind ja feministische Forderungen! Wenn man aus denen aber Gesetze gegen das Selbstbestimmungsrecht muslimischer Frauen bastelt, wird ihre Angst, auf die Straße zu gehen, zu Recht wachsen. Und wie heißt es so schön im Arbeitsprogramm der Zweiten Frauenbewegung? «Ich bin nicht frei, solange eine einzige Frau unfrei ist, auch wenn sie ganz andere Fesseln trägt als ich.» 

 

ASYL. Es ist immer die Frage, welche der geplanten Maßnahmen überhaupt verfassungskonform sind. Die Ausweitung der Schubhaft auf bis zu 18 Monate etwa ist schon in der Begutachtungsphase der kommenden Asylgesetznovelle und scheint mir fern einer verfassungskonformen Praxis zu sein. Da das Regierungsprogramm beim Thema Migration eher einem Schlepper_innen-Förderungsgesetz gleichkommt, würde ich mich aber auf die positiven Dinge konzentrieren. Am positivsten ist da sicher der Rechtsanspruch auf Sprachkurse für Asylwerber_innen mit guten Aussichten auf ein positives Verfahren und das systematische bundesweite Anbieten von Integrationsmaßnahmen, das es bisher so nicht gab.

Herbert Langthaler, Asylkoordination

 

ARBEIT. Ein flächendeckender Mindestlohn von 1.500 Euro brutto für Vollzeitarbeit bringt für rund 12 % der Beschäftigten der Privatwirtschaft eine spürbare Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse – und zwar überproportional für Frauen. Die Finanzierung von 20.000 neuen Arbeitsplätzen für über 50-jährige langzeitarbeitslose Personen sehe ich positiv, und die «Lockerung des Kündigungsschutzes» verfolgt wohl eher den psychologischen Zweck, Arbeitgeber_innen die Angst zu nehmen, sie würden neueingestellte Arbeitnehmer_innen 50+ «nicht mehr los». Die angekündigte Arbeitszeitflexibilisierung sehe ich mit gemischten Gefühlen, da die zumeist zu einem Entfall von Überstundenzuschlägen und somit zu Einkommenseinbußen führt.

Martin Risak, ao. Universitätsprofessor am Institut für Arbeits- und Sozialrecht der Universität Wien

ERMITTLUNGSMETHODEN. «Gefährder» ist kein Rechtsbegriff, sondern nur ein Begriff aus der Polizeiarbeit. In Deutschland, dem «Geburtsland» der Gefährder_innen, werden so auch Personen eingestuft, gegen die die Polizei nur einen Verdacht auf einen Verdacht hegt; es geht also nicht immer um Tatverdächtige und schon gar nicht um Täter_innen. Im Bereich ‹innere Sicherheit› sind nun in Österreich starke Erweiterungen bei der Überwachung von «Gefährder_innen» geplant: bei abstrakter Gefährdung zum Beispiel die elektronische Fußfessel. Was als abstrakte Gefährdung gilt, bleibt hierbei völlig offen. Würde die Fußfessel eingeführt, die ja normalerweise für strafrechtlich Verurteilte verwendet wird, werden de facto (Fast-)Verdächtige bestraft und wird die Unschuldsvermutung aufgehoben. Das wäre ein neuartiger staatlicher Zugriff außerhalb rechtsstaatlicher Prinzipien. Keine Terrorgefahr kann den rechtfertigen.

Andrea Kretschmann,

Soziologin und Kriminologin

 

STRAFRECHT. Durch höhere Strafdrohungen werden keine Straftaten verhindert. Täter werden sich kaum, bevor sie zur Tat schreiten, die Strafdrohung im StGB ansehen und dann entscheiden, lieber doch nicht zu vergewaltigen. Auf der Uni hat ein Lehrer folgendes Beispiel erzählt: «Im Mittelalter wurden die Diebe gehängt. Und zwar öffentlich, am Marktplatz inmitten einer dicht gedrängten Menschenmenge; dort wurde besonders viel gestohlen.» Was die Sicherheitsverwahrung für psychisch beeinträchtigte Täter_innen betrifft: Die wäre ein Rückschritt. Vielmehr sollte unbedingt die Eingangsschwelle zum Maßnahmenvollzug angehoben werden. Die Droher_innen und Nötiger_innen gehören dort nicht hin.

Katharina Rueprecht, emeritierte Rechtsanwältin

 

WOHNBAU. «Wenn die Regierung den gemeinnützigen Wohnbau nun für privates Kapital öffnen will, dann wird spekuliert, Bauland gehortet und Wohnen weiter verteuert, nicht leistbarer gemacht. Denn das hohe Mietpreisewachstum ist nicht nur auf Angebot und Nachfrage, sondern auch auf die Einführung des Richtwerts und der befristeten Mietverträge 1994 zurückzuführen. Das ist die Ursache für Spekulation im Wohnungsbau. Zu der geplanten Regelung, dass bei Umwidmung von Grundstücken der öffentlichen Hand 25 % als Flächen für förderbaren Wohnraum vorbehalten werden müssen, ist zu sagen: Klüger wäre es gewesen, sich 100 % vorzubehalten.»

Josef Iraschko, Mietrechtsexperte und Bezirksrat für Wien Anders,

KPÖ und PolDi

 

UNIVERSITÄTEN. Die Einführung eines Modells zur Studienplatzfinanzierung an öffentlichen Universitäten bedeutet, dass sich die Studierendenzahl an den bereitgestellten Finanzmitteln orientiert. Anstatt die Hochschulen auszufinanzieren, werden neue Zugangsbeschränkungen eingeführt. Um zu sehen, wohin diese Maßnahmen führen, genügt ein Blick auf die Medizinunis. Dort haben die Aufnahmetests dazu geführt, dass der Anteil ökonomisch schwächer gestellter Studierender auf 10 % herabgesunken ist. Hochschulpolitik muss darauf abzielen, die Beschränkung eines Menschen auf das Milieu, in das er geboren wurde, zu durchbrechen. Studienplatzfinanzierung und Zugangsbeschränkungen bewirken das Gegenteil.

Karin Stanger, Österreichische Hochschüler_innenschaft