Wir sind nicht an allem selber schuldDichter Innenteil

Shakespeares Sonett 154: «Love’s fire heats water; water cools not love» (Illustration: © Jella Jost)

Cherchez la Femme (04/2023)

Bei allen Göttinnen der Literatur, die die Meinen sind: Monika Helfer, Siri Hustvedt, Margaret Atwood, Judith Butler, Mithu Sanyal (Vulva!) und einige mehr meiner Lieblinge, die mir gerade nicht einfallen wollen, je mehr ich lese, desto mehr Literaturgöttinnen stehen in meinem Altar, der Bücherwand. Diese Göttinnen sind real per Papier anfassbar. Ich nehme quasi via Papier Kontakt zu ihnen auf, beziehungsweise umgekehrt. Das brauche ich – den Griff aufs Weiß, den Geruch. Mein gerade zu Ende gelesenes Buch von Julia Schoch Das Liebespaar des Jahrhunderts, der zweite Teil einer Trilogie, hat mich in meinen Gedanken erwischt. Punktgenau. Seite für Seite. Minutiös. Gedanken über meine Ehe, meine Liebe, meine Partnerschaft, meine Elternschaft, meinen oft nicht zu bewältigenden Alltag mit zwei Kindern und einem Menschen mit sogenannten besonderen Bedürfnissen, den ich anfangs ganz anders geliebt habe. Anders? Ist das die Manipulation der eigenen Erinnerung? Die Liebe ist die Liebe, wo sie eben hinfällt, dort ist sie. Morgen ist sie vielleicht immer noch dort, wenn man sie nicht wegfliegen lässt oder jemand sie mit dem Besen wegkehrt. Soll ja auch schon vorgekommen sein. Die Liebe in den Mistkübel werfen. Die Liebe strukturell vergewaltigen, die Liebe den neoliberalen Grundsätzen opfern, opfern müssen, weil es nicht mehr anders geht. Weil sonst die Miete nicht mehr bezahlt werden kann. Weil es eng und knapp ist. Die Liebe zerstören. Ganz einfach. Bravo! Wir sind nicht an allem selber schuld.

Die Liebe wird erstickt

Julia Schoch ist eine famose Autorin, eine Glanzleistung ihr Buch, das ich da in Händen halte, als ich die letzte Seite, tief ergriffen, umblättere. Akribisch schildert eine Frau Details einer langen, großen Liebe, die durch einen brutalen Alltag, anstrengende Kindererziehung, Mehrfachbelastungen und die kulturellen Erwartungen zwischen ihren eigenen Fingern zerbröselt. Die Suche nach Freiheit verebbt in einer durch Gewalt geprägten Gesellschaft, in der sie lebt und die sie (fast) nicht mehr hinterfragt, weil sie sich an sie gewöhnt hat. So wie alle anderen auch. «Kurz half mir das Shoppen über die Lieblosigkeit hinweg. Dann wurde mir schwer ums Herz, wenn ich daran dachte, dass der Kapitalismus an unserem Unglück verdiente, und für eine nicht besonders lange Weile ließ mich der Gedanke wieder näher an dich heranrücken.» Der Erzählung von Julia Schoch gelingt es tatsächlich auf jeder Seite, dass ich mich persönlich ertappt fühle. Es werden Gedanken ausgesprochen, die ich in mir, tief unten, wohl immer schon gedacht, aber nur wenige auch ausformuliert habe. Es kommt einem Aha-Erlebnis gleich, das Buch zu lesen. Das Ende des Buches war zeitgleich Erleichterung und Bestätigung. Wörter und Gedanken werden rausgeschüttelt und ausgebeutelt wie alte Bettwäsche, die belüftet werden muss. Zum Schluss der Erzählung erkennt man das Filtrat, das durch alle Gedanken und Handlungen geflossen ist, wie durch einen Trichter. Die Substanz. Das, was bleibt. Diese Frau hat etwas erkannt. Diese Frau ist sehr klug. Sie hat verstanden, dass ihre belastenden Gedanken, die sie verdrängen möchte, diese Gedanken, dass man sich auseinandergelebt hat, dass diese Gedanken, die zu einem persistierenden Wunsch nach Trennung mutieren, dass diese Gedanken das bittere Produkt eines Alltags sind. «Die Samstagnachmittage waren am grausamsten. Ich fühlte mich in die Zeit meiner Kindheit zurückversetzt, als ich das Wochenende herbeigesehnt hatte, an dem dann aber so wenig Außergewöhnliches passierte, dass ich mich sofort wieder nach dem Schultrott am Montag sehnte. Der Geschirrspüler piepste sein Endsignal. Die wenigen Teller, die vom Mittag darin standen, dampften aus, und ich blickte zu den gegenüberliegenden Häusern, zwischen denen für einen kurzen Augenblick ein Ausflugsdampfer zu erkennen war. Majestätisch zog er über den Fluss.» Der Begriff von Leistung, die Mehrfach-Pflichten von Frauen, dieses Arbeits-Familien-Leben lässt die Beziehung zum Partner ganz nach hinten treten, oft aus dem simplen Grund, weil es schlicht keine Zeit mehr füreinander gibt. Keine Kraft mehr. Ich selbst lebe mit meinem Partner bald dreißig Jahre zusammen. Ja, wir haben schwere Belastungen und harte Zeiten durchlebt, da kam auch das Wort «Trennung» vor, es flogen die Fetzen und die Türen. Szenen einer Ehe. Heute sind wir ruhiger, haben unseren Drang nach Freiheit oder geglaubter Individualität, die man durchsetzen muss, nicht mehr in den Vordergrund gestellt, sind in der Phase des Alterns, in der wir uns wieder finden, aktiv, denn das ist Arbeit, Auseinandersetzung und der Wille wieder zu lieben. Die Liebe verschwindet nicht; also selten. Liebe ist kein Gottesgeschenk. Das ist Katholizismus, mehr nicht. Die Liebe ist eine bewusste Entscheidung, wenn sie reif ist. Sie versickert jedoch, falls nicht gegossen wird. Wir gießen jetzt also wieder.

 

Ins Liebes-Szenario katapultiert

Julia Schoch beschreibt in ihrer Autofiktion derart vielfältige Erfahrungselemente einer Beziehung, die die Leser:in direkt in ihr eigenes Liebes-Szenario katapultiert. «Mein Gedächtnis ist eine Kiste, die auf einem Dachboden gestanden hat und nach langer Zeit geöffnet wird. Ich frage mich, auf welchem Wege sich Erinnerungen ihren Weg bahnen. Plötzlich und unerwartet sind sie da. Das Manifest, das wir zu Beginn unserer Liebe verfasst haben, ging so: Auf das Gefühl ist wenig Verlass. Das Gerede von der Echtheit der Liebe ist eine Wahnvorstellung. Nimm dir die Liebe so vor, wie man sich vornimmt, häufiger ins Kino zu gehen. […] Die Liebe ist nicht kompliziert. Riskiere, dass deine Kontur verwischt und in einem anderen aufgeht. Verschwende dich nicht an eine fade Liebe. Liebe MICH.»
Es existiert kein klares «Ja» und kein klares «Nein» in der Liebe. Beide sind immer da, die Dualität schlägt uns ein Schnippchen. Wir hätten gerne Einfachheit, Beständigkeit, Sicherheit, aber ernten Routine, Abstumpfen, Erkalten oder wie auch immer man den Prozess einer Entfremdung nennen möchte. Über die kulturellen Prägungen was die Liebe betrifft, sagt Joseph Henrich, ein Anthropologe aus Harvard: «Kultur ist psychologisch, weil sie unsere Erinnerungen formt, unsere Wahrnehmungen, unsere kognitiven Fähigkeiten
Julia Schoch schreibt über Emotionen in einem klaren, sachlichen Stil, entmystifiziert sie, gibt ihnen Raum, aber keine weitere Bedeutung. Das ist äußerst entlastend in einer heteronormativen (genauso auch in einer homosexuellen) Liebesbeziehung zu zweit. Für mich persönlich war es wichtig zu erkennen, dass Gefühle und Gedanken von Trennung sein dürfen, aber nicht zwangsläufig zu der bewussten Handlung führen müssen. Glauben wir nicht immer alles, was wir selber denken! «Im Grunde gab es nirgendwo auf der Welt einen Landstrich, der nicht kontaminiert war von den Schrecken irgendeines Geschichtsereignisses. Es kostete Mühe, die beiden Bereiche vor dem inneren Auge getrennt zu halten, die politischen und historischen Geschehnisse zu vergessen […]. Als gäbe es zwei Arten von Erinnerung, zwei Arten von Erfahrung: die aus den Nachrichten und den Geschichtsbüchern und unsere privaten. Zwei Ströme, die sich besser nicht zu nahe kamen.» Die Spannung, ob «Ja» oder «Nein» zum Trennungswunsch, hält bis zum Ende des Buches. Die letzten Worte bestätigen weder das eine noch das andere. Sie geben uns nicht die erwartete simple Antwort, und das ist gut so. Die Erzählende geht sich selbst nicht auf den Leim und fühlt sich daher nicht gezwungen zu entscheiden. Möglicherweise kann sie mit einem «Ja» als auch mit einem «Nein» leben. Die hehre Liebe wird vom hohen Sockel geholt. Das tut so gut! Es nimmt zum Beispiel meiner Liebe, zu meinem geliebten Menschen, den Leistungsdruck. Pragmatismus in der Liebe entlastet eine Beziehung ungemein. Ich darf mir mein kulturelles Korsett ausziehen. Danke, Julia Schoch!