Wir sind uns selbst fremdDichter Innenteil

Mehmet Emirs Brief an die Mama

Hallo Mama!
Ich weiß, Dir geht es nicht besonders gut. Wie geht es Vater? Solltest Du nach meinem Befinden fragen Allah sei Dank ich kann nicht wirklich klagen, aber arbeiten muss ich viel! Und verliebt habe ich mich auch schon lange nicht mehr. Heutzutage ist es schwer, sich in meinem Alter zu verlieben.

Ich führe Selbstgespräche. Meistens denken «wir» uns, es passt schon. In einer Zeit, in der es sehr viele Krisen gibt, haben wir selbst keine. Sogar Amerika hat eine Krise! Nein Mama, ich bin nicht durchgedreht, aber über meine Selbstgespräche erzähle ich von mir in der Mehrzahl. Auch sehr viele andere Leute erzählen mir ihre Probleme, Erlebnisse oder Alltagsgeschichten.

Einen Freund aus unserer Gegend treffe ich sehr oft. Er ist geschieden und findet zurzeit auch keine Frau also nicht zum Heiraten, aber, wasd eh scho! Oft versuchen wir herauszufinden, warum wir immer noch allein sind, obwohl wir beide sehr sozial eingestellt sind. Es kann auch nicht an unserer Nase liegen. Wir haben die Landessprache erlernt und beim Integrationstest würden wir sogar einen Einser mit Stern bekommen. Wir setzen uns mit Kunst, Kultur und gesellschaftspolitischen Entwicklungen nicht nur in Österreich, sondern global auseinander, sogar klassische Konzerte besuchen wir, aber wenn es darum geht, eine Beziehung zu führen, sind wir uns selbst fremd. Woher kommt das? Er erzählt mir von seiner Kindheit. Es sind die gleichen Merkmale und Muster wie bei mir. Als er geboren wurde, war sein Vater bereits nach Österreich gegangen und ist, so wie ich, bei der Mutter aufgewachsen. Wir haben somit bis zur Pubertät kein Bild für eine Mann-Frau-Beziehung vorgesetzt bekommen, das wir als Vorbild für unsere späteren Lebensjahre hätten nützen können. Unsere Wunden sind tief und deren Wurzeln liegen in den Tälern von Dersim, dem heutigen Tunceli.

Wenn sein Vater auf Besuch nach Hause kam, ging er zuerst zur eigenen Mutter, die in der Nähe des Dorfes wohnte. Die Kinder warteten auf den Vater, der zwar ganz nahe war, aber irgendwie den Weg nach Hause nicht fand.

Meine Geschwister und ich haben auch immer sehr lange auf unseren angekündigten Vater warten müssen. Wir suchten nicht unbedingt seine menschliche Nähe oder Vaterliebe, sondern das Nikolohafte.

Er wird mit mehreren Koffern kommen. In jedem wird Schokolade stecken diese lila! Seine Ankunft wird uns einen süßen Gaumen bereiten. Unsere Träume davon ließen uns im Dezember immer unruhiger werden, wie die Zugvögel vor der großen Reise. Ich verstehe die Bedeutung von Weihnachten für Kinder.

Anscheinend sind mein Freund und ich der Gefühlskälte der neuen Heimat noch nicht gewachsen. Hier fängt es wieder an, kalt zu werden. Die Blätter der Bäume welken und bei jedem leichten Windstoß fallen sie auf die Asphaltgehsteige und wir steigen drauf.

Eine schöne Zeit wünsche ich Dir, Mama!

Dein Sohn Mag.art. Memo