FLANERIE abseits der Tourismusrouten (8): Stuwerviertel
Tschuschisches Selbstbewusstsein: Noch ist der Schriftzug „Kanak Attack“ auf einer Hauswand im Stuwerviertel keine Drohung, sondern ein Spiel mit der Drohung.Ebenfalls im Stuwerviertel, Wien-Leopoldstadt, konnte man bis vor kurzem ein paar Zeilen lesen, die dieses – aus dem Einwanderungsland Deutschland importiertes – Logo der zwischen den Welten Lebenden mit Inhalt füllt, eine Art Proto-Manifest der aus der Fremde Zugereisten, denen heute so gerne pauschal Integrationsunwilligkeit unterstellt wird.
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Wir sind unter euch“, ist dieses Manifest betitelt. „Ihr braucht nicht so zu tun, als ob ihr vor uns durch die Mauern und den Stacheldraht sicher sein könnt. Es gibt keine geteilte Sicherheit auf dieser Welt. Ihr könnt uns, auch wenn ihr wollt, nicht fern halten. Wir sind unter euch. Wir MigrantInnen! Eure Maßnahmen der Exklusion sind nur eine Reaktion auf unsere Anwesenheit. Unsere Anwesenheit hier steht in Verbindung mit eurer Anwesenheit dort.“
Heute steht das Lokal Ecke Max Winter-Platz/Molkereistraße leer, in dem dieser Text, im Rahmen der Ausstellung „Frisch zum Kampfe! Frisch zum Streite!“, zu lesen war. Aber der Autor des Textes, Ljubomir Bratiæ – Philosoph und freier Publizist, gemeinsam mit Nora Sternfeld Kurator der Ausstellung – kann jederzeit an jeder Ecke des verrufenen Viertels auftauchen, kann in jedem Beisel (außer in der bisher einzigen Möchtergern-Bobo-Location des Grätzels) anzutreffen sein. Sicherlich ist er nicht der einzige leidenschaftliche Stuwerviertelbewohner, wahrscheinlich aber ist er der mit den feinsten Fühlern. Sich von Projekt zu Projekt in die Wirklichkeit vortastend, steht Ljubomir Bratiæ natürlich nicht allgemein und jederzeit für Führungen durch „sein“ Stuwerviertel zur Verfügung; dass ich mit ihm umherschweifen durfte, ist mein verdammtes stadtschreiberisches Privileg.
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Wo sonst gibt es so eine Lebensqualität wie hier?“, ein völlig ungewohntes Güte-Attest steht am Anfang der Flanerie durch den Leopoldstädter Bezirksteil zwischen Praterstern und Mexikoplatz, der in den Mainstreammedien nur in Gemeinschaft mit Begriffen wie Dreck, Schmutz, Prostitution, Illegalität und Kriminalität genannt oder in „anspruchsvolleren“ Medien mit Parallelgesellschaft, Ghetto oder Integrationsunwilligkeit assoziiert wird.
Ljubomir Bratiæ meint das aber ganz ernst mit dem schönen Leben im „Drecksviertel“. So nahe an der Donauinsel, gleichzeitig so nahe im Stadtzentrum, wo gibt’s das noch? Schau mal, diese wunderschönen Alleen, wo gibt’s die noch in Wien? Im Schanigarten der türkischen Pizzeria Maradonna sitzen, das beste Kebab der Stadt genießen und dem mediterranen Treiben des Ilgplatzes folgen, der von der „Krone“ zum „hässlichsten Platz Wiens“ gekürt wurde, weil er einer ihr unheimlichen Öffentlichkeit Freiraum gibt -kann ein lauer Abend irgendwo schöner sein? Mit den Kindern in das Freibad am Max-Winter-Platz gehen, fast vor der Haustür, ist das nicht noch ein Privileg? Genauso wie der Asia-Shop in der Ennsgasse 18, der getrocknete Fische aller Arten zu Preisen anbietet, die einen Naschmarktkunden wie um zwei Jahrzehnte veraltet vorkommen?
Dann nennt Ljubomir Bratiæ einen spezifischen Grund, warum er sich hier wohl fühlt. Der hängt mit seiner Herkunft zusammen. „Im Stuwerviertel scheint es eine Konzentration von Wlachen zu geben“, sagt er. Auch er wuchs in einer Familie auf, die der wlachischen Minderheit, also einer nicht slawisch sprechenden Gruppe in Serbien angehörte.
Polizei, wo man nur hinschaut
Er lädt Augustin-LeserInnen ein, mit Respekt vor dem Nicht-Normierten durch das Stuwerviertel zu flanieren und umherschweifend das Image, das die Medien diesem Stadtteil verpasst haben, mit der Realität zu vergleichen. Das sei freilich gar nicht leicht in diesen Tagen. Die Stimmen von SozialwissenschafterInnen, die dem Stuwerviertel eine Qualität der Sicherheit attestieren, werden von politischer Polemik übertönt. „Die Jagd auf Sexarbeiterinnen setzt sich in der auf Illegalisierte fort, und zwar mit einem enormen Säuberungswillen, nicht nur was die Menschen betrifft. Dieser Wille steckt Menschen ohne Papiere in Gefängnisse oder schneidet die Büsche am Mexikoplatz, wo die Kinder gespielt haben, weil dort angeblich eine Spritze gefunden wurde: mediengerecht gefunden, weil die Bezirkszeitung dabei war und in einem zweiseitigen Artikel darüber berichtet“, schrieb Ljubomir Bratiæ kürzlich in einem Essay über „Prekäre Räume“.
Nach einer Studie des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie ist das Stuwerviertel keineswegs ein besonders gefährliches Viertel der Stadt. Ljubomir Bratiæ: „Es scheint eher so zu sein, dass wir hier die Durchsetzung eines ganz bestimmten Ordnungsdiskurses miterleben: Darum alle die von Zeit zu Zeit herumwandernden Betonstraßensperren, darum die ununterbrochene Polizeipräsenz, wo man nur hinschaut, und darum auch die Menschenjagd durch die nächtliche Lokalszene.“
Die seltsamen Betonstraßensperren, auf die Stuwerviertel-FlaneurInnen unweigerlich stoßen, sollen motorisierte Freier vom Rundendrehen abhalten. Die Fahrer von Autos mit Gänserndorfer, Mistelbacher und Hollabrunner Kennzeichen sind übrigens zu den üblichen Feindbildern hinzu gestoßen. Tatsächlich schwirren Überlegungen im Raum, Autos mit solcher Herkunft den Zutritt zum Stuwerviertel zu verbieten. Kanaken und Gänserndorfer bilden die Achse des Bösen – eine imaginäre Gefahrenkombination, die allein schon einen Besuch des Stuwerviertels interessant macht …