Wir wollten schlau sein wie die SchlangenDichter Innenteil

Die Aktivistinnen der DDR

Irgendwo finde ich mich in den Interviews mit den ehemaligen Frauen der DDR immer wieder, irgendwo sehe ich mich und meinen Bruder, meine Eltern, Großeltern und Kusinen neben den erzählenden Frauen wie Schatten stehen. Manchmal fallen Personennamen, Straßennamen oder Begriffe aus der Epoche einer Diktatur, die quasi um die Ecke, gar nicht weit von Wien war.

Zeichnung: Jella Jost

Bildtitel: Das Verblassen einer Erinnerung

Und Entfernung entscheidet doch in irgendeinem absurden Sinn, ob wir´s wollen oder nicht? Erschreckt uns der Terror in Frankreich, erreicht er uns physisch, zucken wir zusammen, verdreht er uns den Magen und lässt den Appetit schrumpfen? Oder fahren wir bloß bei Kickls Verlautbarungen die Krallen aus? Wie leben wir zwischen Gewöhnung und Empfindsamkeit, zwischen harter Schale und weinendem Herz, wo ist der Übergang, die Schnittstelle, an der wir fühlen, denken und handeln können ohne Ohnmacht und Raserei. Wie wehren sich Frauen in Diktaturen und wie war das damals in der DDR möglich? Wie haben diese Frauen den gefährlichen Einsatz und die Maßnahmen zur Überwindung einer Ideologie gelebt und überlebt?

Aus Zeit wird Distanz

Vor mir liegt ein Buch als Sammlung von Interviews verschiedener DDR-Frauen-Generationen, Aktivistinnen und Oppositionelle in der Friedensbewegung. Und ich kann nicht aufhören zu lesen, kann gar nicht aufhören. Jede Frau, die hier spricht, bestätigt die Todesangst vor Verfolgung, Haft, Gulag. Auch meine Eltern hatten das ungewollt an ihre Kinder weitergegeben. Aber aus Zeit wird Distanz. Zwischen den ehemaligen historisch-politischen Zuständen und meinem Leben als Frau hier in Wien quetscht sich die Dimension des Vergessens wie ein Puffer vor die Zeitschleife meiner Erinnerung. Fast angenehm. Könnte man glauben. Aber ich weiß nur zu gut, so bleibt es nicht. Das Glas wird immer wieder voll und kippt immer wieder. Aber mit dem Alter habe ich gelernt, das Umkippen nicht als etwas Dramatisches zu betrachten, sondern als etwas rein Physikalisches. Man leert. Man füllt auf. Man trinkt. Manchmal kippt das Glas. Dann leert es wieder. Eigentlich ganz natürliche Prozesse.

Meine Alltagsbegegnungen, wenn ich in Berlin bin, sprechen nicht immer diese Sprache. Die Zeit der Diktatur rückt mehr und mehr in die ganz letzten Reihen und die Jungen rücken nach. Es ist notwendig, Mechanismen der Repression zu erkennen und zu identifizieren, es ist notwendig, Bücher über Entstehung von Diktatur zu lesen, heute in ganz anderem Outfit, vielleicht, mit anderen Termini und anderer Show, mit Style und Habitus. Vielleicht kommt die nächste Diktatur ganz chillig und voll cool daher? Wie rasch Aufrüstung und Militarisierung Gewalt nach sich ziehen können, machte den Frauen große Sorgen. In der DDR sollte auch sie eingezogen werden. Das war für alle, vor allem für jene mit Kindern der Albtraum, da die Kinder ins Heim gekommen wären. Almut Ilsen, eine der Frauen, erzählt: «Wir Frauen waren zum großen Teil mit der Wehrdienst-Thematik konfrontiert wegen unserer Freunde und Männer, die zur Armee mussten. Wir sahen, dass es für sie ein Albtraum war, diese Zeit irgendwie zu überstehen. Das hat ihre Substanz und ihre Persönlichkeit sehr angegriffen. Ich habe bei vielen erlebt, dass sie in eine schwere Krise gekommen sind, weil ihnen ihre ganze Selbstbestimmung genommen wurde. Viele haben sich ständig betrunken, weil sie es einfach nicht mehr ausgehalten haben. Und das alles, um töten zu lernen. Ich denke, dass es beabsichtigt war, die Leute so fertig zu machen. Es hat wie Gehirnwäsche gewirkt. Sie haben bei der Armee alles über sich ergehen lassen […] Die Vorstellung war grauenvoll, dass Frauen auch in diese Maschinerie sollten, zumal wir gemerkt haben, wie zerstörend sie auf Männer wirkt.» Tina Krone, eine weitere Aktivistin erzählt: «Wir kannten bis dahin das neue Wehrgesetz nicht, dass Frauen eingezogen werden sollten im sogenannten Ernstfall oder wie das da formuliert war. Dass also die Männer zur Armee müssen, die Frauen zur Armee müssen und die Kinder in Heime kommen […] Wir haben uns dann vorgestellt, was das bedeutet, wenn das eintritt. Weil wir ja wussten, dass dieser Ernstfall von den Machthabern definiert wird, je nachdem, was die also als ernst betrachten. Und wir wussten, wir müssen uns dagegen wehren. Wir können nicht unseren Söhnen in zwanzig Jahren ins Gesicht blicken und ihnen sagen: Ja, mein Gott, man konnte nichts machen.»

Die Ersatzfrauen

Das Frauenbild der DDR war ja alles andere als progressiv, wie immer noch oftmals mythologisierend gerne behauptet wird. Ich dachte das auch lange und meine Kusinen in den 70ern und 80ern waren ebenfalls felsenfest davon «überzeugt». Aber schon nach dem 2. Weltkrieg dominierte ein nahezu völlig konventionelles Frauenbild, in dem die Rolle der Frau als «Mit-Arbeiterin» des Mannes betont wurde, in Politik, Gesellschaft und Kirche. So wie die weibliche Form in Schrift und Sprache ja so gerne «mit-gedacht» wird. Den Frauen wurden Rollen als Ersatzmänner zugewiesen, um die vielen Toten arbeitsmäßig zu ersetzen. Alles hatte Funktion und Plan. Die eigentlichen Ansätze einer frühen sozialistisch-emanzipatorischen Frauenbewegung gingen jedoch verloren. Die Gleichberechtigung war eine Art Honecker-Vorzeigeprojekt auf der politischen Weltbühne, aber bloß, um nach außen gut dazustehen, sie degenerierte so zur Kampagne zur Mobilisierung der Frauen für die Produktion. Die Alltagshelden blieben jedoch die Männer.

In den 80er-Jahren regte und bewegte sich dann endlich was, die DDR-Gesellschaft war zunehmend homogenisiert und als Gegentrend setzte eine starke Individualisierung ein. Meine Kusine tourte mit ihrer Band als prämierte Jazzsängerin durch alle sozialistischen Länder, ihr Terminkalender war voll. Es ging ihr ökonomisch sehr gut. Dafür sorgte Vater Staat. Arbeit hatte jede. Bloß mit dem Plattenvertrag klappte es nie so wirklich. An Stasi (Staatssicherheitsdienst) dachte sie wohl dabei nie. Nach der Wende und nach Durchsuchung ihrer Akten war klar, was meine Kusine niemals hätte glauben wollen; sie wurde bespitzelt. Ein Plattenvertrag, und damit Meilenstein für ihre Karriere, blieb aus. Heute singt sie nicht mehr. Nach der Wende bezog sie Hartz IV. Ein Albtraum. Sie musste damals für 1 Euro pro Stunde im Kindergarten arbeiten. Systemische Bestrafung für das Nicht-Vorhandensein von Arbeit für alle. Die Wiedervereinigung. Aus einer Staatsfeindin im Osten wurde im Westen durch Hartz IV ein Mensch dritter Klasse. Damit wurden schwerwiegende politische Fehler gemacht. Da wird aus Zeit nicht Distanz. Weil die Demütigungen bei vielen nie verheilen können. Was wurde aus den zahlreichen politischen Aktivistinnen der DDR? Heldinnen? Keine der interviewten Frauen würde das bejahen. Aber irgendwann war der Punkt erreicht und sie entschieden sich richtig, obwohl sie alle, auch meine Mütter und Kusinen einen hohen Preis dafür bezahlten, indem sie entweder unter Lebensgefahr bei Nacht und Nebel alles hinter sich lassen mussten oder im Land blieben und unter hohem Risiko kämpften. Manche konnten sich im neuen Deutschland etablieren und haben in der Politik mitgemischt. Manche.

Mit Blick auf das Absurde

Bärbel Bohley, 1945 geboren, Kunststudium in Berlin, Malerin und Gründerin von Frauen für den Frieden und der Bürgerbewegung Neues Forum erzählt: «Mit dem Blick auf das Absurde gelang es mir, eine Distanz aufzubauen zu dem Brutalen, Kalten, Mörderischen, Menschenverachtenden, das hinter dem Absurden lauerte, um einen fertig zu machen». Und sie kommt zu dem Schluss «Die demokratischen Bürgerbewegungen Ost-Europas haben zwar die kommunistischen Diktaturen überwunden, aber zu wenig die politische Kultur Westeuropas bewegt und verändert. Eine an den Menschenrechten orientierte, friedvollere, ehrlichere, freundlichere Politik, die ganz auf die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen ausgerichtet ist, existiert immer noch nicht. Trotz aller Rückschläge bin ich nicht pessimistisch. Seit 1989 hat sich in Europa und in vielen außereuropäischen Ländern gezeigt, dass sich auf Dauer die Zivilgesellschaften nicht durch eine manipulative Machtpolitik beherrschen lassen. Die Geschehnisse in Georgien, Ukraine, Libanon, Kirgisien, Kuba und China zeigen, dass diese Bewegung weitergeht.»

Und besser als Gesine Oltmanns könnte ich es niemals ausdrücken, weil mir die direkte Erfahrung, das eigene Leben in der DDR fehlt. Ich kenne es nur aus dramatischen Erzählungen, heftigen Diskussionen und hochemotionalen Streitgesprächen in meiner Familie. Gesine Oltmanns spricht es so wunderbar direkt aus: «Die Zahl der Menschen, die in der DDR unter widrigsten Bedingungen für die Werte des Westens, der Freiheit und Demokratie eintraten, für den aufrechten Gang im falschen System, mag klein sein. Es handelt sich aber trotzdem um eine eigene Generation des deutschen Volkes insgesamt, die mit ihrem Eintreten für Rechtsstaat und Demokratie dem ganzen Volk ein Beispiel geben.» Ja, ich kann meinem Sohn heute ins Gesicht blicken und ihm sagen: Mein Gott, da konnte man sehr wohl was machen! Deine Großeltern sind aus der Diktatur geflohen und du kannst dich glücklich schätzen, in einem freien Land aufzuwachsen. Ich sage es ihm gleich heute noch. Denn heute hat er Geburtstag. Er ist 16 Jahre alt. Und ab heute eine Wähler-Stimme mehr. Und heute ist Donnerstag.

INFO:

Mut. Frauen in der DDR

von Bärbel Bohley, Gerald Praschl, Rüdiger Rosenthal

Herbig Verlag 2005

Der Band ist vergriffen, allerdings antiquarisch erhältlich