Wo Adler nie müde werden …!Dichter Innenteil

Das kleine Fenster, das in der Mitte ein weißes Plastikkreuz in sich bewahrte, ließ heute von draußen keinen Schimmer Licht aufsammeln. Die abendlichen Dämmerung, die sich viel zu früh auf die breite Straße, die Autos und die großen Laternen legte, spielte gemeinsam mit dem Nebel eine trostlose und düstere Novembermelodie.

Illu: Silke Müller

Ab und zu hörte man schnelle Schritte, die den feindseligen Winter durchbrechen, oder seiner Kälte zu entfliehen versuchten. Wie bleierne Klangfarbe drohend, jede Fröhlichkeit tief in ein schwarzes, bodenloses Loch zu versenken. Monoton und zugleich beängstigend, wartet er an jeder Ecke, sehnsüchtig zwei armen und verängstigen Seelen etwas zu bescheren. Leise wie ein Schurke klettert er durch Fenster, denn um durch die Türe zu kommen ist er zu feige. In seiner unsichtbaren Gegenwart treibt er sein Wesen. Dieser unhöfliche Gast, der sich immer selbst einlädt, ist aufdringlich, lästig und gemein. Dieser feindselige Besucher besitzt kein Mitleid für diese zwei kümmerlichen Geschöpfe, die von allen Erdenbewohnern vergessen wurden.

Das täglich frischgebackene Brot vom Hofer um 79 Cent und der Holundersirup stehen seit Jahren auf der Karte. Früher befand sich am Rennweg der Zielpunkt-Markt, doch leider ging er in Konkurs. Jetzt bietet der Spar-Markt großzügig in einer der großen Kühlboxen seine vielversprechenden Lebensmittel zum halben Preis an. Wenn man Glück hat und Jesus von oben zwinkert, können wir noch verwendbare vitaminreiche Nahrung antreffen. Als guter Christ lernt man, ob man will oder nicht, auch für das Wenige dankbar zu sein. Doch bedauerlicherweise kann auch diese genügsame Einstellung die zähe Einsamkeit, die sich oft in Hilflosigkeit verwandelt, nicht beseitigen. Seit Jahren wird sie uns beiden im Alltag unentgeltlich zugeteilt. In der Großstadt leben viele Menschen und trotzdem ist man abgeschirmt und einsam. Auf einer Insel hat man den Vorteil, dass man Natur und Tiere um sich hat, doch hier auf dieser Insel hat man nur kahle Wände und ein paar Silberfische. Oft kommt es mir vor, als hätte der kalte Winter die Einsamkeit geheiratet. Kein Wunder, dass keine Gäste bei der Hochzeit dabei waren. Warum auch, wenn sie solch kalte, beschwerliche, trostlose und unberechenbare Charakterzüge besitzen. Und jetzt drücken sie seit Ewigkeiten mit ihren langen Nägeln an unseren schmalen Kehlen.

Mit der Zeit lernt man zu kämpfen. Dann wird ihr Spuken nur noch eine kleine Spucke, die kann man leicht mit der Küchenrolle wegwischen. So lernten wir das Großstadtleben zu jonglieren. Manchmal bleiben die Bälle in der Luft, hie und da fallen sie zu Boden. Jovana, mein 10-jähriges Mädchen ist Jongleurin und meist geschickter als ich mit meinen 50. So kann es geschehen, dass meine Lungen doch etwas abbekommen vom einengenden Gürtel der Stille. Aber wenn Jovana die Bälle zu Boden fallen lässt, bekommt sie eine leicht heisere Stimme, als würde sich etwas um ihre Kehle schnüren. Dann steigt ihr Wehklagen auf, und die seltsame Stille beginnt über den Rücken zu kriechen.

Das winzige Kinderzimmer hatte etwas Verwandtes zu einem Abstellraum mit Fenster inklusive Besen, Fetzen, Kübel und anderem Gerümpel. Die Wand war in abwaschfestem zartem Rosa gehalten, das in zwei Tönen auf den dünnen Wänden verteilt war. Vielversprechend, fast zuckersüß – eine schwache Kopie der Barbie-Welt. Die Schleife mit blassrosa Herzchen sowie Katzenfiguren ganz oben, vollendeten einen Mädchentraum. Möbel, wie ein weißes Bett mit Laden, das gleich neben den Fenster stand, dünne grün-weiße Vorhänge mit hängenden Nähten, eine Winnie-Pooh-Wandlampe, ein niedriger weißer Tisch, ein winziger Kinderkorbstuhl, der sich fast auflöste, und ein massiver Schreibtisch aus dunklem Nussholz mit Laden und laminierter Arbeitsplatte aus durchsichtigem Plastik. Ein zierliches Regal aus Korbgeflecht mit drei Schubladen, ein Fernseher, ein DVD/Video-Rekorder und mehrere Wandregale, beladen mit Videokassetten und diversen Büchern. Die meisten Möbel waren von der Caritas (Mittersteig). Einzig das schokoladenfarbige Laminat war neu. Man machte das Beste. Trotz des gemütlichen und kinderfreundlichen Eindrucks schien der Raum heute wie in vielen anderen, langen Wintertagen eine Zelle der Einsamkeit zu sein.

Jovana

Jovana ist dieses kleine feminine Wesen, das jetzt schon wie ein kleines Weib bestimmend und rechthaberisch ist. Im Juni 2006 schlüpfte sie durch meinen Bauch auf den Acker des Semmelweis. Eine rote Rose hatte sie auf der Stirn sowie geplatzte Adern in ihren winzigen Augen. Auch sie musste ihr erstes Leid auf diesem Weg erfahren. Es gab kein Klagen, nur neugierige Blicke, als würde sie sagen wollen: «Das ist also die Besitzerin der dunklen Höhle, in der ich 9 Monate verweilte und zusammen meine ersten 18 Jahre oder länger verbringen soll. Keine Umkehrmöglichkeit. Nur ein Fahrschein in eine Richtung.» Vielleicht dachte sie, es wäre die falsche Zeit, der falsche Ort und die falsche Mama! Aber wen kümmert es? Um jetzt noch zu schreien ist es zu spät. Das ist nur ein großer Energieverlust und verstehen werden mich die anderen sowieso nicht. Also halte ich lieber meinen Mund und warte, bis ich ihre Sprache erlernte. Es wird ein wenig dauern, aber bis dahin muss ich mich mit meiner Körpersprache durchschlagen. Sie dachte vielleicht, dies sei sehr demütig in Anbetracht der steilen Klippe, von der ich komme. Hat sich Jovana von alleine entschieden, diese Reise zu starten, oder bestimmt doch jemand anderer für sie? Die Antwort darauf wird sie höchstwahrscheinlich erst bekommen, wenn sie eines Tages wieder auf ihr Eiland zurückgekehrt ist. Die Wesen aus diesem Tal haben für sie keine Antwort. Diese kleine Seele ahnte, was auf sie zukommen würde, wenn sie das Licht dieser Welt erblickte. Was sie alles erdulden müsste, wie viele Prüfungen sie durchgehen sollte, ohne dabei den Glanz in ihren Augen zu verlieren. Wird ihr Lachen aus der Tiefe des Bauches aufsteigen oder ist es nur ein kurzes Grinsen? Wird sie den alten Jasminbaum im Botanischen Garten erkennen, ihre Nase an ihm erfreuen und bei den vielen Pinienbäumen einen tiefen Atemzug holen? Mit ihren großen Füßen die süße kleine Holzbrücke berühren, unter der die Goldfische ein Sommerbad genießen und auf ihre Eistüte warten? Werden aus ihren großen, blauen Augen jäh Freudentränen fließen, oder werden Tränen der Trauer in ihrem jungen Antlitz tiefe Gräben hinterlassen? Und ihr die fröhlichen, rötlichen Wangen rauben und, stattdessen, ihr schwere, hängende und kantige Ringe in den Kiefer hineinritzen? Wird ihre Lust aufzustehen am nächsten Morgen noch da sein, selbst wenn die Sonne in ihr kleines dunkles und trostloses Zimmer winkt und die blauen Singvögel sich bemühen, die schönste Melodie für sie zu zwitschern?

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© Silke Müller

Die Haut hell und sanft wie Seidenpapier

An diesem düsteren Winterabend lag sie im Bett, ihre großen Augen füllten sich mit Tränen, das strahlende Himmelblau war heute nicht in dem schwachen Licht, das neben ihren Bett lag, zu entdecken. Große schwarze Pupillen sah man, die Augenbrauen gerade, dunkel und dicht, leicht nach unten gezogen. Die Haut hell und sanft wie Seidenpapier, dass man auf ihr Gedichte schreiben könnte. Dunkelbraune, fast schwarze, glänzende lange, dichte Haare, die sich auf dem rosa Kopfkissen verteilten und die kleine Stirn, die bei dem Haaransatz ein V verheimlichte, wie ein Siegesstempel, der sich unter den Haaren versteckte. Eine kleine schön geformte Nase, darauf großzügig Sonnensprossen verteilt. Das zarte Rosa verfeinerte die liebreizende Form ihrer Lippen, ihr fülliges Gesicht und die leicht mollige Gestalt. Manchmal, wenn sie rote Backen bekam, strahlte sie Unbeschwertheit, Natürlichkeit und etwas Ländliches aus, als hätte sich Zeitloses und Reines in ihrem Antlitz vereinigt. Ein Märchenbild aus Bauernstuben. Und doch war Jovana eine dieser Gestalten, die in einfachen Kleidern ihren Liebreiz verheimlichen konnten und gleichzeitig wie unter einem Schleier unbemerkt erscheinen. Wenn sie aber ihre graziöse, feminine Seite ausdrücken wollte, verhalfen ihr die eleganten Gewänder, einer temperamentvollen Schönheit des spanischen Königshofs gleich zu sein. Eine Esmeralda. Sie, diese eigenwillige Blüte, die mir oft nah und fremd ist und um die ich mich jeden Tag seit Jahren alleine ohne Pause kümmere, über sie wache, mich plagen Wahnvorstellungen, ihr könnte etwas zustoßen.

Zwei Laden

Es drohte, jede schöne Erinnerung zu verblassen an dieses halbwaise Kind, das mir Gott mit 38 als himmlisches drittes feminines Geschenk überreichte und in die Bauchwiege legte. Immer mehr Augenblicke, wo Jovana auf ihre eigene Art ihre Eigenständigkeit erkämpfte, es kam mir vor, als hätten sich zwei Laden geöffnet. Einmal eine mit Schnuller und Baby-Puppen, Boxer-Handschuhen, die andere Lade mit Schminkzeug, Plastiknägeln und Boxring. Das waren ihre ständigen Launen, die versuchten sich in unsere innige Beziehung hineinzudrängen. Einmal mit den Boxhandschuhen zum Zuschlagen und danach erneut im Boxring. Von diesen Gemütsphasen bekam ich zwar keine blauen Flecken, aber mein Vitamin-B-Gehalt nahm ab, als würde sie mit einem silbernem Haken und einem dünnen Drahtseil mir jede Ruhe und Gelassenheit hinauszerren. Einmal Baby, ein anderes Mal Teenager – für mich als Mutter war diese Kombination nervenstrapazierend. Mühsam und oft an der Kippe, das Handtuch endgültig zu werfen. Es kam leider der Moment, wo ich mich danach sehnte, eine Erholungspause nach 3720 Tagen, das sind genau gesagt 10 Jahre Mutter-Sein. 4 Tage bekam ich frei, als ich mich zwei Mal operieren lassen musste. Ich sehnte mich nach einem Berg von Bestsellern, sie zu durchforschen, ohne dabei zehnmal unterbrochen zu werden, den Sonnenuntergang in seinem rötlichen Gold bis zu Ende zu betrachten, Wellen zuzuhören, endlich ein Buch zu schreiben an einem einsamen Ort, wo sich Himmel und Erde küssen. Dieser inständige Wunsch, einfach alles dies zu tun, was ich als junges Mädchen tat, so hoch zu fliegen wie ein Adler. Hier unten fühlte ich mich wie in einem Stall mit einer lästigen Junghenne, wo ich aber bei den Adlern sein sollte. Ich vermisse es, den Geschmack des Sorgenfrei-Seins auf meinem Gaumen zergehen zu lassen. Doch eigene Kinder zu haben ist ganz anders, als wenn man kurz eine süße kleine Kusine oder Nichte besucht und dann wieder erleichtert nach Hause geht, wenn sie ständig weint und schlecht gelaunt ist. Nein, hier spielt das Leben ganz anders, es hat kein Erbarmen. Das individuelle Wesen, das durch mich diese Welt entdeckte, es ist 24 Stunden da, und außer mir gab es niemanden für dieses Geschöpf. Und so sehr es mir oft auf den Nerven tanzte, war meine größte Angst, wenn mein Schöpfer morgen beschließt, mich nach Hause zu holen. Was würde aus dieser kleinen Kreatur, sie wäre ganz mutterseelenalleine in diesem Tränen-Tal. Obwohl ich mich so sehr nach diesen Flügen sehnte, könnte ich dieses junge, unbeholfene Ding nicht verlassen, sie besaß dieses kleine Zimmer und mich. Das war ihre ganze Welt. Ich das einzige Familienmitglied, und obwohl wir meistens nur zu zweit waren, schien sie in manchen Augenblicken zufrieden und glücklich zu sein.

Vielleicht deshalb, weil ich sie seit 10 Jahren jeden Morgen aus dem Bett rausholte, ihr ein Morgenbad vorbereitete in dem grauen Plastiklavoir, Honig mit Milch schäumte, ihr die passenden Farben zum Anziehen suchte, beim Anziehen half, ihren Kakao genau in der richtigen Temperatur zubereitete, nicht weniger als zwei Kaffeelöffel Zucker hineingab, ihr Bohnensuppe kochte und Speck zum Brutzeln brachte, wenn es schön draußen ist, alles liegen lasse und mit ihr in den Park gehe, den letzten Cent ausgebe für ihre bunten Plastiknägel und Nagellack. Jeden Abend ihre Melodie summte … Nein, jetzt kann ich und darf ich nicht fliegen. Vielleicht eines Tages, wenn ihre Flügel so weit gewachsen sind, dass sie auch ab und zu mitfliegen kann, wenn ihr Adler-Gesellschaft gefallen sollte …

Ende Teil 1

Fortsetzung in Augustin 423 und hier.

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