Eing'Schenkt (20. Dezember 2023)
In Wien traf sich die Welt. Vor 30 Jahren fand die Weltmenschenrechtskonferenz der Vereinten Nationen in der Donaumetropole statt. «Alle Menschenrechte sind allgemein gültig, unteilbar, bedingen einander und bilden einen Sinnzusammenhang», formulierte die Abschlusserklärung deren Unteilbarkeit «alle für alle». Das klingt alles so selbstverständlich, no na ned, eh klar. Ist es aber nicht.
In Wien, mit über zehntausend Teilnehmer:innen aus aller Welt, wurde dem Kulturrelativismus eine Absage erteilt. Menschen kommen Rechte zu, weil sie Menschen sind, nicht weil sie zu einer bestimmten Kultur oder Herkunft gehören. Wird über Kultur gesprochen, um über Menschenrechte zu schweigen? Es gibt Hinweise. Der Iran begründet die Missachtung von Frauenrechten mit der «eigenen religiösen Kultur», China rechtfertigt mangelnde Pressefreiheit mit der «kollektivistischen asiatischen Tradition» und in Europa führen Staaten den Ausschluss vom sozialen Wohnbau, Existenzsicherung oder demokratischer Mitbestimmung auf die Kultur und Werte «der Anderen» zurück. Der Zugang zu Wohnungen, die nicht feuchten Substandard darstellen, wird so als kulturelles Recht definiert – und nicht als soziales Grundrecht. Dasselbe bei sozialen Aufstiegschancen oder Mindestsicherung. Es ist paradox, dass diejenigen, die sich auf «europäische Werte» berufen, dieselben sind, welche anderen Menschen auf diesen Werten begründete Gleichheit verweigern.
Wird über Werte gesprochen, um über Menschenrechte zu schweigen? Es gibt Hinweise. Der Begriff der Werte kommt nicht aus der Ethik, sondern aus der Ökonomie. Der Wert gibt das Gewicht an, das wir einem Gegenstand zuerkennen, wie wir ihn bewerten, mit wie viel Geld wir ihn aufwiegen. Das übliche Maß für Werte ist der Preis. Welches Gewicht bringen Sozialhilfebezieher:innen auf die politische Waage, wie viel «wert» ist ein Flüchtlingsleben, wie viel wiegt die Unversehrtheit von Zivilist:innen im Krieg? «Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde», formulierte Immanuel Kant.
Das Anstößige an den Menschenrechten ist für so manche, dass sie auch für «die Anderen» gelten. Manche sitzen dem Missverständnis auf, Menschenrecht sei etwas, das nur für eine:n selbst gilt – aber sicher nicht für die jeweils persönlich unsympathischen, ökonomisch unbrauchbaren, die vermeintlich anderen. Sie sind für mich da, ja, aber immer auch für die anderen – eben für alle. Das ist ihr Ärgernis. Hierzulande wollen die wenigsten die Menschenrechte abschaffen, sie wollen aber, dass sie nicht für alle gleich gelten. Was de facto ihre Abschaffung bedeutet.
Wo beginnen die Menschenrechte? «An den kleinen Plätzen, nahe dem eigenen Heim. So nah und so klein, dass diese Plätze auf keiner Landkarte der Welt gefunden werden können», antwortete Eleonore Roosevelt, die vor 75 Jahren federführend an der Allgemeinen Erklärung mitarbeitete, auf diese Frage, «und doch sind diese Plätze die Welt des Einzelnen: Die Nachbarschaft, in der er lebt, die Schule oder die Universität, die er besucht, die Fabrik, der Bauernhof oder das Büro, in dem er arbeitet. Das sind die Plätze, wo jeder Mann, jede Frau und jedes Kind gleiche Rechte, gleiche Chancen und gleiche Würde ohne Diskriminierung sucht. Solange diese Rechte dort keine Geltung haben, sind sie auch woanders nicht von Bedeutung.»