Wo die Armut schier grenzenlos istvorstadt

Ein Auszug aus dem Buch «Die Armen von Wien»

«Anwaltschaftliche Sozialreportagen» veröffentlichte der AUGUSTIN-Kolumnist Uwe Mauch in seinem neuesten Buch. Für eine dieser Reportagen, die wir hier etwas gekürzt wiedergeben, ließ er die Stadtgrenze hinter sich und begleitete eine Hilfsfahrt nach Rumänien und Moldawien. In Regionen, die von Menschen verlassen werden, um beispielsweise in Wien ein erträglicheres Leben zu versuchen.Das Olympische Dorf ist nicht auf dem Stadtplan verzeichnet. In Roman nennt man diesen Unort so, weil der weithin sichtbare Siloturm der ehemaligen Schweinekolchose die Leute an ein olympisches Feuer erinnert. Vorsichtig lenkt Schwester Lioba, die hier für den Orden der Steyler Missionsschwestern arbeitet, ihren Wagen über die löchrige Zufahrtsstraße. Der olympische Gedanke basiert in der 60.000-Einwohner-Stadt im Nordosten Rumäniens auf einer explosiven Mischung: aus Zynismus und Antiziganismus.

Die Ordensschwester kennt die bösen Geschichten, die man über die Außenseiter_innen von Roman erzählt. Der Stadtsenat hat die Romafamilien im Jahr 2002 aus der Stadt gejagt, an den Rand verbannt, mit der Begründung, dass sie sich in den Wohnungen nicht ordentlich benehmen und dass sie dem Stadtbild schaden. Sie parkt auf dem staubigen Vorplatz, auf dem kein anderes Auto zu sehen ist.

Die Romasiedlung von Roman besteht aus vier Stallungen, jede Stallung ist 100 Meter lang und 25 Meter breit. Wo im Kommunismus Haustiere gehalten wurden, hausen heute Menschen, viele Menschen. 500 in einer Stallung, 2000 insgesamt.

Vor den Eingängen warten keine Olympionik_innen, sondern lethargische Männer und Frauen, für die es weder Arbeit noch Wertschätzung gibt. Schwester Lioba ist eine von ganz wenigen Personen in Roman, die ihr Vertrauen genießen. Man gewährt uns Einblick in eine kleine, nur durch Holzplanken abgetrennte Box. Wo sich früher Schweine suhlten, leben heute zehn, elf, zwölf, bis zu 15 Menschen. Was für eine Symbolik! Es gibt in der Box keine Toilette, keine Waschmaschine, keine Heizung, keinen Herd, es gibt nur einen Wasserhahn pro Stallung. Dementsprechend streng riecht es im olympischen Dorf.

Achtzig Prozent der Bewohner_innen sind Kinder und Jugendliche. Der Staat kümmert sich nicht um deren Zukunft. Sie ist damit vorprogrammiert. Wäre da nicht das kirchliche Schulprojekt, das die Brüder vom Orden des Heiligen Anton von Padua ins Leben gerufen haben und das Schwester Lioba tatkräftig unterstützt.

Die Direktorin in der nahegelegenen Schule erzählt: «Die meisten Kinder, die zu uns kommen, haben keine feinmotorischen Erfahrungen.» Schwester Lioba stimmt der Schulleiterin zu. Sie kocht mit ihren Kindern und betreut auch ein Gemüsebeet. Sie konnte beobachten, dass ihr Unterricht den frühzeitig Benachteiligten neue Perspektiven eröffnet: «Sie haben so eine Freude, wenn sie sich bei uns einmal richtig einseifen können. Und ihre Augen leuchten, wenn man sie lobt.»

In der Heimat des Lehrers

Im Mai 2015 durfte ich den Wiener Mediziner Helmut Euler-Rolle auf einer Hilfsfahrt nach Rumänien und Moldawien begleiten. Euler-Rolle bemüht sich seit dem Jahr 1988 darum, die materielle Not der Ärmsten der Armen zu lindern, in einer Region Europas, auf die unsereins niemals aufsieht und im besten Fall «runter» fährt. Zwei Mal pro Jahr, jeweils im Mai und im Oktober, packt der praktische Arzt gemeinsam mit Freiwilligen die Spenden seiner Patient_innen, Kolleg_innen, Freund_innen, von Firmen und Mitgliedern seines privaten Hilfsvereins in zwei Klein-Lkws, um in Richtung Osten zu fahren. Seine neuntägige Rundfahrt, bei der er gut 3500 Kilometer zurücklegt, führt zu Menschen, denen seit vielen Jahren das Notwendigste fehlt.

Ich wollte mithelfen, wollte seinen Hilfsverein «Austria pro Moldavia» auch journalistisch begleiten. Und ich wollte mich in Rumänien von Jan verabschieden, jenem Mann, dem ich in diesem Buch einen Nachruf gewidmet habe. Der als Religionslehrer nach der Wende in Bukarest seinen Job verloren hatte, dann auf Baustellen arbeitete, um sich und seine Familie durchzubringen, bei einem Arbeitsunfall ein Bein verlor und am Ende in Wien an einer chronischen Krankheit bzw. an chronischer Armut starb. Und ich wollte wissen, wie Ro­mafamilien in seinem Heimatland leben.

Sie leben nicht gut, weiß Schwester Bernadette, die sich in Satu Mare mit allem, was sie hat, für die private Jugendwohlfahrt engagiert. Schon seit 2007 führt sie in der Kleinstadt an der Grenze zu Ungarn fast im Alleingang ein Haus für Kinder aus zerrütteten Familien. Trotz der finanziellen Engpässe kann sie den Kindern, die schon in jungen Jahren viel über sich ergehen lassen mussten, ein neues Zuhause bieten. Ihr Einsatz lohnt sich: Isabella, die Älteste im Haus, die von ihrem Vater zum Freiwild für Freier erklärt worden war, hat dank ihrer Obhut wieder Selbstvertrauen gewonnen. Ein enormer Fortschritt!

Bernadette muss ihr weiterhin Mut machen. Das Mädchen will nie wieder diesen einen Tanz tanzen, bei dem sich grobe Männer an ihr vergangen haben. Sie war doch noch ein Kind, und wollte nicht mehr leben. Doch dann hat sie sich gegen den Tod entschieden. Langsam kehrt ihre Lebensfreude zurück. Das Zusammenleben mit den anderen Kindern tut ihr gut. Rührend kümmert sich das Mädchen auch um den fünfjährigen Cristian, dessen Eltern an TBC erkrankt sind, dessen Vater dann Selbstmord beging und dessen Mutter seit Monaten hilflos im Krankenhaus liegt.

Auf die Frage, wer die Beschützerin der Kinder in Satu Mare beschützt, antwortet Schwester Bernadette mit einem Lächeln: «Die Kinder beklagen sich oft, dass ich zu viel bete.»

Im Zimmer des gelähmten Taxlers

In Raducaneni, einer ebenso kleinen Stadt an der Grenze zu Moldawien, besucht der Wiener Hausarzt einen ehemaligen Taxifahrer. Der 58-jährige Mann sitzt in seinem Bett, in einem notdürftig eingerichteten Zimmer, in einem abbruchreifen Haus; sein enger Lebensraum wird nur abends von einer Straßenlaterne beleuchtet. Seit seinem Verkehrsunfall, den er nicht verschuldet hat, kann er nicht mehr alleine das Bett verlassen.

«Ich wollte aus meinem Wagen steigen», erzählt Herr Filip. «Da wurde ich niedergestoßen. Von einem Auto, das gegen die Einbahn fuhr.» Der Unfall liegt einige Jahre zurück, er hat sein Leben verändert, er hat ihn – so wie den Lehrer Jan – aus der Bahn geworfen. Seither kann er nicht mehr gehen und auch seine Finger kaum bewegen, denn er ist spastisch gelähmt. Der sechste Halswirbel ist gebrochen, verraten die Papiere, die man ihm im Krankenhaus ausgehändigt hat. Dass er für immer gelähmt sein wird, will er dennoch nicht wahrhaben. Mehr zu schaffen macht ihm, dass er sich keinen Rollstuhl leisten kann. Ohne Rollstuhl ist er von der Welt abgekapselt. Schnell wird auf dieser Reise klar, dass die Armen in Jans Heimat noch ärmer sind als die Armen in Österreich. Und dass sie wenig finanzielle Hilfe erfahren.

Station der totgeweihten Kinder

Helmut Euler-Rolle hat bei seinen Hilfsfahrten viele Menschen kennengelernt, die dringend Hilfe benötigen. Doch im städtischen Krankenhaus der moldawischen Hauptstadt Chișinău verschlägt es auch ihm die Sprache. «Wir arbeiten hier wie im Mittelalter», sagt Vadim Scutaru in der neurochirurgischen Kinderstation. Dann schildert der von seiner Arbeit gezeichnete Chirurg, wie er Kinder mit Gehirntumor operieren muss: «Mit einem Bohrer werden vier Löcher in den Kopf gebohrt. Die Schädeldecke wird dann mit einer Säge gespalten.»

An seiner Abteilung fehlt es vom Nachttisch bis zum OP-Werkzeug an allem. Blut spritzt bei Operationen auf den Boden, weil es nicht abgesaugt werden kann. Das Licht im Operationsraum ist schwach. Elementare hygienische Standards können nicht eingehalten werden. Kinder, die dank High-Tech-Medizin in Wien geheilt werden können, sind in Chișinău dem Tod geweiht bzw. bleiben auf Dauer chronisch krank. Daher bittet Scutaru höflich um Hilfe. Nicht Geld, auch keine neuen medizinischen Geräte schweben ihm vor. Seine Idee ist eine weitaus bescheidenere: Was die Spitalsbetreiber in Westeuropa zum Müll bringen lassen, könnte in seinem Land Menschenleben retten. «Macht nichts, wenn die Geräte vierzig Jahre alt sind.»

Am Ende findet sein Kollege aus Wien die richtigen Worte: Helmut Euler-Rolle verspricht dem Chirurgen, bei seinen Landsleuten nachzuhaken. Fürs Erste kann er dringend benötigte Medikamente und Verbandszeug – Spenden von Apotheker_innen – übergeben. Die eklatanten Lücken in der medizinischen Versorgung Moldawiens machen auch ihn betroffen.

Nach der herzlichen Verabschiedung geht es weiter in das Dorf Capriana, das sich eine Autostunde nordwestlich von Chișinău in einer lieblichen Talmulde versteckt. Dort führt die Schuldirektorin zu Gheorghe. Der Bub mit den lustigen Sommersprossen ist 15 Jahre alt, doch er spricht gewählt und bedacht wie ein Erwachsener. Notgedrungen. Er hat binnen kurzer Zeit Vater und Mutter verloren. Beide sind an unheilbaren Krankheiten verstorben.

Er lebt jetzt mit seinen beiden jüngeren Geschwistern im Haus seiner Tante und seines Onkels. Beide sind von früh bis spät berufstätig. Müssen sie sein. Bei durchschnittlichen Monatslöhnen von weniger als 50 Euro reicht es nur schwer für das Notwendigste. Dennoch sind Gheorghe, seine Schwester und sein Bruder nicht verwahrlost. Immer wieder streicht er den Jüngeren liebevoll durchs Haar. Zwischendurch ermahnt und ermuntert er sie, wie ein sorgsamer Vater.

Gheorghe erzählt, dass er Koch werden möchte: «Dann könnte ich mein eigenes Geld verdienen und uns ernähren.» Doch Koch werden kann man nur in der Hauptstadt. Der Weg dorthin ist weit und unfinanzierbar: «Dafür fehlt der Familie das Geld», bedauert die Schuldirektorin. «Sehr schade, er ist ein exzellenter Schüler, er würde sicher seinen Weg machen.»

Im Heiligtum der Geldvernichter

Stolz erzählt der Priester von Capriana, dass unter seiner Leitung das orthodoxe Kloster binnen kürzester Zeit renoviert werden konnte. Knapp 500 Arbeiter waren zeitweise auf der Baustelle. Etliche Millionen, viel Spendengeld habe der Umbau gekostet. In der Tat ist das im Kommunismus arg vernachlässigte Kloster von Capriana heute wieder imposantes Kulturgut. Schön anzusehen, schwer zu ertragen: Bei aller Bewunderung für das Gotteshaus drängt sich die Frage auf, ob nicht die Investition für die eine oder andere Ikone bei den Familien in der Nachbarschaft besser angelegt wäre.

Diese Frage lässt sich auch beim Besuch des katholischen Pfarrers im rumänischen Dorf Horlesti nicht einfach vom Tisch wischen. Der Fußboden der mächtigen, weithin sichtbaren Kirche wurde mit Marmor aus Italien ausgelegt.

Der Pfarrer verfügt über superschnelles Internet, dass es uns nur so die Haare aufstellt. Was dem guten Mann zu vergönnen ist, wären da nicht seine gutgläubigen Nachbar_innen in dem 2000-Einwohner-Ort, die weiterhin in notdürftig eingerichteten Hütten dahinvegetieren, ohne Strom, ohne fließendes Wasser.

Ein älterer Bewohner von Horlesti erzählt, dass er 27 Jahre lang auf Baustellen in Bukarest gearbeitet hat und dass ihm die Arbeit am Bau hart zugesetzt hat. Jetzt sei er in Pension, die keinen Ruhestand bedeutet. Für den Ausbau des eigenen Hauses hat weder das Geld noch die Kraft gereicht. Mit 100 Euro Pension kommt man auch hier auf dem Land nicht weit. Der Mann erzählt von seinen Herzproblemen und dem Kraftaufwand, wenn er die Kanister mit dem Wasser von seinem Nachbarn die steile Straße hinaufschleppt. Dieser Kraftaufwand macht ihm mehr und mehr zu schaffen.

In der Stadt, in der Jan starb

Nach neun Tagen, knapp 3500 Kilometer im Auto und vielen bedrückenden Begegnungen passieren wir an einem frühsommerlichen Sonntagnachmittag auf der A4 die Stadtgrenze von Wien. Helmut Euler-Rolle hat es verstanden, mit seiner unkomplizierten Art seine Mitfahrer_innen (bisher haben ihn schon mehr als hundert Freiwillige ein oder mehrere Male begleitet) bei Laune zu halten. Ich bin dankbar, dass ich ihn begleiten durfte. Wieder in Wien, fällt mir Teresa ein, die Jan vor seinem Tod öfters geholfen hat und über den Grund ihres Engagements einmal gemeint hat: «Ich stelle mir das schwer vor, wenn man ständig die Augen verschließen muss, um ja nicht das Leid in seiner Nachbarschaft zu sehen.»

Das Grab von Jan haben wir nicht besucht, die Route der Hilfsfahrt führte nicht an Uriceni vorbei. Meine Gedanken sind am Ende dennoch beim verstorbenen Lehrer und bei seinen Angehörigen, die versuchen, in Wien ein besseres Leben zu führen. Ihr Streben ist, so viel steht für mich am Ende einer langen Recherchereise fest, mehr als verständlich.

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