Wo die Schallplatten zu den Menschen kommenArtistin

Musikarbeiter unterwegs … im möglichen Sehnsuchtsort Plattengeschäft

Vinyl als Tonträgerformat – seit einiger Zeit erlebt es ein vernehmbares Revival. Parallel dazu der gute alte Recordshop als dessen Umschlagplatz. Ein ganz neuer: Sissysound im ­4. Bezirk! Text: Rainer Krispel, Foto: Mario Lang

Luxusprobleme: Das gequälte Selbst ächzt unter der Diktatur der Dinge. Bei mir hauptsächlich Platten, CDs und Bücher, die unterzubringen im Lebensraum, der zudem verändert werden will (leistbare Wohnung anyone?), zusehends schwierig wird. Ich liebe sie, (fast) jede einzelne, (fast) jedes einzelne, aber womöglich kann und muss und will ich sie endlich gehen lassen. Ok, The Clash müssen bleiben, das Dischord-Zeug, und Mink DeVille/Willy DeVille, The Gits, Siouxsie und … Holger, Neo-Eigentümer und Betreiber von Sissysound, einem neuen Plattengeschäft, weiß, wovon ich schreibe. Der 1977 in Bad Ischl geborene, in Linz aufgewachsene Musikliebhaber legt als DJ Sissyboy auf und betreibt den Club Nil Desperandum (zuerst im Rhiz, nun im Grillx). Nach zwei Jahrzehnten mit Lehre und Anstellungen bei Elektro-Fachgeschäften in der jeweiligen Tonträgerabteilung – ursprünglich in Pasching bei Linz, seit irgendwann in den späteren 1990ern in Wien – wagte er jetzt den Sprung in die Selbstständigkeit. In seinem schönen Laden, vormals ein Knopfgeschäft, dessen Regale er nach der Eröffnung am 19. Oktober kontinuierlich weiter bestückt – schon jetzt stehen so viele schöne Platten da, dass es schwerfällt, der Diktatur nicht weiter zuzuarbeiten –, unterhalten wir uns über all things Plattengeschäft und many things Musik. Während zuerst King Tubby und dann eine wunderbare Sängerin, deren Name ich mir nicht notiert habe, durch den hellen, freundlichen Raum klingen.

Zusammenkratzen, um es (wieder) rausgehen zu lassen.

Wien gebricht es nicht an (guten) Plattengeschäften, beim Suchen nach einem Laden schloss Holger den 7. (Vinyl-Hieb of Market, Substance, Schallter, Galea Records, Lindi´s Schallplatten Laden, Black Monk …) aus, am schon vor eineinhalb Jahren gefundenen, im August bezogenen Standort in der Margaretenstraße zieht er ein geistiges Dreieck mit Rave Up und Teuchtler, hoffentlich lustvoll abzugehen für Menschen auf der Suche nach guter, aufregender Musik. Sozialisiert mit Metal («die erste Metallica halte ich hoch im Herzen») und Hip-Hop, Konzerten in Kapu und Stadtwerkstatt, passionierter Pendler zu Drehli Robniks legendärem Soft Egg Café im Wiener Flex («wasted am Montag in die Arbeit in Linz»), Redaktionsmitglied von Volksstimme (und früher Malmoe) ist Holger der Widerspruch nicht fremd, den Gegenstand seiner Obsession, Musik, die ihn vornehmlich als Träger und Ausdruck linker und emanzipatorischer Ideen interessiert und berührt, als Handelsgut zu sehen. Beim Unternehmensgründungsprogramm des AMS tauchten naturgemäß Begriffe wie «U(nique)S(elling)P(roposition)» auf, und aus dem gewesenen Berufsalltag ist ihm die oft zynische «Wichtigkeit» des Unit-Shiftens und der Drehung geläufig. Aber er hat nicht seine Abfindung und mehr in Sissysound gesteckt, um das zur Handlungsmaxime des Ladens zu machen. Ein Grundstock des Repertoires ist seine eigene Sammlung (und angekaufte Sammlungen anderer Menschen) – «10, 20.000 Platten» – die er nach der Erkenntnis, dass er viele Platten seit seinem letzten Umzug vor sieben Jahren nicht gehört hat, gehen lässt, damit sie anderen Menschen Freude machen und gehört werden, anstatt zu verstauben. «Die Sachen, die man wirklich super findet, hat man eh im Kopf.» Behalten werden Prefab Sprout und die Pet Shop Boys, wobei er bei letzteren nicht wirklich jede Maxi braucht. 80:20 schwebt ihm als Verhältnis von Gebrauchtware zu neuen Tonträgern vor, auch CDs wird es – eingeschränkt – geben. Bezüglich (nicht nur) neuem Stoff die schöne Ambition: «Die coolen Platten so günstig wie möglich verkaufen.»

Der Laden ohne Druck.

Holger, der das erste Wiener Ladyfest als ganz wichtig erlebt hat, dabei viele Freundschaften geschlossen hat und pflegt, manifestiert im Namen des Geschäfts seine Nähe zu queerer, feministischer D.I.Y.-Kultur, der er entsprechend parteiisch im Geschäft Raum geben wird – «Fettkakao ganz vorne». Kurz diskutieren wir, wie «Weltmusik» einschlichten, gewiss nicht nach «Nation». Geradezu kurios eine Beobachtung, die ihm Freund_innen erzählten. Nämlich, dass sie bei Tonträger-Grossist_innen die Anonymität schätzen, während sie im credibilen Expert_innenladen (Wissens-)Druck verspüren, ja die «richtige Platte» zu kaufen. Solcher Druck hat im Sissysound Hausverbot. Holger lässt während unseres Gesprächs einen rumänischen Zeitungsverkäufer herein, den er uns als seinen Freund vorstellt und mit Kaffee versorgt. Dieser braucht eher Schuhe als Vinyl, ein (other) reality check, der uns allen geläufig ist. Ich gebe der Diktatur der Dinge schließlich nach, kaufe gebraucht Carrie Brownsteins großartiges Buch Hunger Makes Me A Modern Girl und will später beim Lesen dringend ihre Band Sleater-Kinney hören. Die Musik lebt!

Sissysound
4., Margaretenstr. 47/1/II
www.sissysound.com