Wo geholfen wird, da fallen Spänetun & lassen

Marianne Gronemeyer über die Arroganz der «Entwicklungshilfe» – Teil 1

Die Zeiten, da das Helfen noch geholfen hat, seien unwiderruflich vorbei. Aber damit nicht genug: Hilfe könne heutzutage fast nur noch angedroht werden; und wem sie angedroht werde, der müsse auf der Hut sein. In der Entwicklungshilfe sei diese Perversion der Hilfsidee auf die Spitze getrieben, heißt es im folgenden (in Wien gehaltenen) Vortrag der in Deutschland lebenden Autorin Marianne Gronemeyer, den wir in drei Teilen veröffentlichen.

Foto: Mehmet Emir

Schon vor über hundert Jahren schrieb Henry David Thoreau, als er sich in die Wälder zurückgezogen hatte, um eine Weile abseits des Weltgetöses zu leben: «Wüsste ich gewiss, dass jemand zu mir käme mit der bewussten Absicht, mir eine Wohltat zu erweisen, ich würde davonlaufen, so schnell mich meine Füße tragen wollten … aus Angst, er könnte mir etwas von seinem Guten antun.» (H. D. Thoreau, «Walden oder Leben in den Wäldern»).  

 

Hilfe als Drohung, als Gefahr im Verzug? Was für eine Paradoxie! Widersinnig ist «drohende» Hilfe jedoch nur, weil sich trotz hundertfacher historischer Widerlegung der gute Klang des Hilfsbegriffes im Alltagsbewusstsein nicht überlebt hat. «Hilfe» kommt für das Alltagsbewusstsein so unschuldig daher wie eh und je, obwohl sie sich längst zu einem Instrument perfekter, das heißt eleganter Machtausübung gemausert hat. Elegante Macht prügelt nicht, zwingt nicht, legt nicht in Ketten. Sie hilft. Unmerklich verwandelt sich das staatliche Gewaltmonopol in ein staatliches Fürsorgemonopol, womit es nicht weniger, sondern umfassender mächtig wird. Kaum ein Kriegseinsatz, der heutzutage nicht als humanitäre Intervention, also als Hilfe gerechtfertigt wird. Wenn nun «Hilfe» scheinheilig geworden ist, bis zur Unkenntlichkeit entstellt, was wäre dann ihr eigentlicher Sinn; welcher Wohlklang des Wortes wird da profitträchtig beerbt?

 

Recht verstandene Hilfe ist bedingungsloser Beistand in Not, ohne Ansehen der Person, der Situation, des Erfolges und des möglichen eigenen Schadens. Misericordia, die ans Herz gehende «wehmütige Theilnahme», das Erbarmen angesichts der Not des Anderen oder der leidenden Kreatur blieb einst Gott und dem überraschenden, nicht planbaren, regellosen, augenblicklichen Einzelfall vorbehalten. Hilfe war, wie das Mitleid selbst, ein Ereignis, nicht eine Tat, «eine Erfahrung, die gelegentlich aufblitzt». Ivan Illich hat, um diese Erfahrung zu beschreiben, in immer neuen Nuancen die Geschichte vom barmherzigen Samariter erzählt. «Die Geschichte ist bestens bekannt.» Aber gerade diese Bekanntheit hat dazu beigetragen, ihre anstößige Pointe zu verharmlosen. «Die vielleicht einzige Art, wie wir sie heute ins Gedächtnis zurückrufen können, ist, uns den Samariter als einen Palästinenser vorzustellen, der einem verwundeten Juden beisteht.» (Illich) Der Samariter, der in Geschäften unterwegs ist von Jerusalem nach Jericho, ist  nach all den herkömmlichen Kriterien gerade nicht zuständig, für den, der da verwundet am Wegesrand liegt, von Wegelagerern ausgeplündert bis auf die nackte Haut.

 

Der Samariter ist kein Moralist

 

Der Priester und der Levit, die auf ihrem Weg nach Jerusalem an dem Geschundenen vorbeigegangen sind, weil sie wichtige Tempeldienste zu verrichten haben, wären von Rechts wegen zuständig gewesen, denn der Geschlagene war einer von ihnen, einer aus ihrer Sprach-, Sitten- und Religionsgemeinschaft. Der Samariter hingegen war keinesfalls zu helfen verpflichtet, im Gegenteil: Er war ein Erzfeind des Juden, und machte sich mit seiner Hilfeleistung sogar eines Verrats gegenüber den eigenen Leuten schuldig. Er also entschied ganz allein, dass dieser geplünderte Jude sein Nächster ist. Und genau darum geht es, Illich zufolge, in diesem Gleichnis. Es ist eben keine Anleitung zu korrektem moralischen Verhalten. Und der Samariter handelt weder nach ethischen Grundsätzen, noch nach Moral, Pflicht, Regel oder Gesetz. Die Hinwendung des Samariters zu dem Juden im Straßengraben, der in seiner Erbärmlichkeit nicht gerade ein prädestiniertes Objekt der Erwählung ist, diese Hinwendung zum erbarmungswürdigen Andern entspringt nicht dem eigenen großherzigen Entschluss, nicht einer Generosität, derer sich der Samariter rühmen könnte, nicht einem Akt der Selbstüberwindung, auf die er stolz sein könnte, nicht seiner Selbstbestimmung, sondern sie ist Resonanz, Widerhall auf ein Geschenk, das der Geschundene dem Vorbeikommenden macht. Die Möglichkeit der Zuwendung nämlich entsteht durch den Anblick des Geschlagenen; «Anblick» im doppelten Sinn des Blickens und des Anblicks, den er in seiner Not bietet und der dem Samariter buchstäblich in die Eingeweide fährt. Der Samariter verdankt nicht sich selbst, sondern dem Andern die Möglichkeit, sich ihm zuzuwenden und seine Geschäfte einstweilen fahren zu lassen. 

 

Moderne Hilfe hat sich an allen Komponenten des traditionellen Hilfsbegriffs vergangen. Der Übergriff reicht von der offenkundigen, plumpen Perversion des Bedeutungsgehaltes bis hin zur gekonnten Sinnverwirrung.

* Weit davon entfernt, bedingungslos zu sein, ist moderne Hilfe unverhohlen berechnend; von der sorgsamen Erwägung des eigenen Vorteils viel eher geleitet als von der besorgten Betrachtung der Not des Anderen. 

* Hilfe ist auch nicht mehr Hilfe in Not, sondern Hilfe zur Beseitigung von Defiziten. Die offenbare Bedrängnis, der Hilfeschrei dessen, der in Not ist, ist kaum mehr Anlass der Hilfe. Hilfe ist vielmehr die unerlässliche, zwingende Konsequenz einer Hilfsbedürftigkeitsdiagnose. Ob jemand Hilfe braucht, entscheidet nicht mehr der Schrei, sondern der Standard der Normalität. Der Hilferufer ist seiner Autonomie als Rufer beraubt. Selbst der Notschrei liest noch seine Fälligkeit am Standard ab.

* Dass Hilfe ohne Ansehen der Person gewährt werde, ist den modernen Menschen kaum noch erinnerlich. So sehr hat sich die Hilfe in ein Instrument verwandelt, mit dem man Anderen die Pflicht zum Wohlverhalten auferlegen kann. Hilfe als Disziplinierungsmittel hat eine lange Tradition. Wer Hilfe begehrt, setzt sich ‹freiwillig› dem überwachenden Blick des Helfers aus. Der überwachende Blick ist an die Stelle des erbarmungsvollen getreten.

* Auch dass Hilfe der unvorhersehbare, regellose Einzelfall sei, gilt nicht mehr. Hilfe ist institutionalisiert und professionalisiert worden. Sie ist weder Ereignis noch Tat. Sie ist Strategie. Hilfe sollte nicht länger dem Zufall überlassen sein. Die Hilfsidee wurde mit Gerechtigkeitspathos aufgeladen. Aus dem Gleichheitsrecht wurde ein universalistisches Anrecht auf Hilfe abgeleitet ebenso wie eine weltumspannende Hilfspflicht. Die Idee und Praxis der Hilfe sind in ihrem Expansionsdrang grenzenlos geworden. Ihre Segnungen reichen in den letzten Winkel der Welt, und kein Sektor des gesellschaftlichen und individuellen Lebens ist mehr vor der Diagnose der Hilfsbedürftigkeit gefeit. 

 

Pasolini und die Entwicklungs-«Hilfe»

 

In der Entwicklungshilfe allerdings ist die Perversion der Hilfsidee auf die Spitze getrieben: Selbst die hochbezahlte Deponierung von Völkermordmaschinen auf fremdem Terrain, die für die Empfängerländer ökonomisch, politisch und moralisch ruinös ist, heißt Hilfe. Neuerdings gelingt es sogar, die gefällige Überlassung verseuchter, hochgiftiger Industrierückstände unter die Kategorie der allgemeinen Wirtschaftshilfe zu subsumieren. Was Nahrungsmittelhilfe genannt wird, stellt in Wahrheit eine Apokalypse des Hungers in Aussicht. Sie bereitet die Weltherrschaft einiger weniger Konzerne durch die Kontrolle über das Saatgut vor. Wie offenkundig betrügerisch die Begriffswahl in der Entwicklungs-«Hilfe» auch ist, das Wort wird nach wie vor für bare Münze genommen, nicht zuletzt von den Betrogenen selbst. Der Hilfsbegriff scheint von seiner moralischen Selbstevidenz kaum etwas eingebüßt zu haben. Seine Suggestivkraft ist ungebrochen. Augenscheinlich genügt heutzutage der Gestus des Gebens, unabhängig von der Art der Gabe, dem zu entrichtenden Preis, der Absicht des Gebers und dem Nutzen für den Empfänger, um den Tatbestand der Hilfe zu erfüllen. Der Wandel vom nehmenden zum gebenden Kolonialismus wurde im Schutze des wohllautenden Wortes vollzogen.

 

Pier Paolo Pasolini, der vielleicht radikalste Kritiker des Konsumismus schrieb schon 1975, also vor mehr als 40 Jahren: «… die kulturelle Durchdringung der Welt durch ein konsumorientiertes, alles assimilierendes Zentrum hat die verschiedenen Kulturen der Dritten Welt zerstört (…). Das Kulturmodell, das den Italienern (und im Übrigen allen Menschen der Erde) angeboten wird, ist nur ein einziges. Die Angleichung an dieses Modell erfolgt vor allem im Gelebten, im Existenziellen, infolgedessen im Körper und im Verhalten. Hier werden bereits die Werte der neuen Kultur der Konsumzivilisation gelebt, das heißt des neuen und repressivsten Totalitarismus, den man je gekannt hat.»

 

Bücher von Marianne Gronemeyer (Auswahl): Genug ist genug. Über die Kunst des Aufhörens (2012);  Wer arbeitet, sündigt  – Ein Plädoyer für gute Arbeit (2008); Die Macht der Bedürfnisse – Überfluss und Knappheit (2009).

Der abgedruckte Vortrag wurde am 23. Februar im Aktionsradius Wien gehalten.

 

 

Zitat:  

«… unsere ‹Wohltäter› sind mehr als unsere Feinde die Verkleinerer unseres Wertes und Willens. Bei den meisten Wohltaten, die Unglücklichen erwiesen werden, liegt etwas Empörendes in der intellektuellen Leichtfertigkeit, mit der da der Mitleidige Schicksal spielt.»

  Friedrich Nietzsche