Wo immer ich hinkomme, meine Akte ist schon dorttun & lassen

Kinder als wandelnde Datenkörper

Weniger Chancen, mehr Kontrolle. Das scheint das Ziel beim Datenmonitoring von Kindern und Jugendlichen zu sein. Martin Schenk und Anna Herr haben sich dystopische Gedanken darüber gemacht, wieso die Daten der Kleinen so hysterisch gesammelt werden.

«Ich habe sie! Ich habe sie! Es ist die Formel, die endlich die Sozialpolitik wissenschaftlich begründet: Die Weltformel der Sozialinvestitionen!» Professor Pachel steht von seinem Computer auf und holt sich eine neue Tasse Kaffee. «Wer heute noch denkt, dass es auf die Kindergartenjahre ankäme, wer heute noch denkt, dass es die Ausbildung ist, der ist auf dem Holzweg.» Die neuen Prognosequoten der Testbatterien für die Kompetenzfeststellung für Säuglinge waren noch höher als gedacht. «Ich sehe ein Kind und kenne sein Schicksal. Es wird keine Umwege mehr geben auf der Suche nach dem richtigen Beruf.» Der Blick zurück erscheint lächerlich. «Wie war das noch vor einigen Jahren, als wir die Zeit bis in die späte Jugend verschwendet haben für die Entwicklung von Allgemeinwissen, Soft Skills und Schlüsselkompetenzen. Zeitverschwendung! Ressourcenverschwendung.»

Professor Pachels Säuglings- und Kleinkinddiagnostik wird mittlerweile flächendeckend angewendet. Unter den ersten Testpersonen waren Nina und Kurt. Die kleine Nina hätte alle Chancen von ihren Potenzialen her, bei Kurt hingegen wäre zu viel an Investitionen eher ineffizient eingesetzt. Alles mit Maß und Ziel, sagt uns die Testdiagnostik. Die Eltern von Kurt haben sich gegen die Prognose des frühen Kompetenztests gewehrt und ihr Kind in der besseren, aber den Testbatterien nach falschen Schule angemeldet. Den im Volksmund «Prophezeiungen» genannten Testergebnissen kann man sich nur bei Strafe widersetzen. Kurt kann sich noch zu gut erinnern, wie die Polizei die saftige Geld- und Verwaltungsstrafe einholte. Seither kämpft Kurt gegen seine Prophezeiung an. Mehr oder wenig vergeblich. Überall wo er hinkommt, ist seine Akte schon dort.

Neue Gesetze, mehr Daten.

Wo diese Geschichte von morgen spielt, sind wir heute noch nicht. Aber tatsächlich werden immer mehr Daten erhoben, und jeder einzelne Lebensweg in Österreich wird immer detaillierter abgebildet. Gerade wird die Einrichtung eines Bildungskompasses vorbereitet, der die Lücke zwischen U9 und Schuleingangsuntersuchung schließen soll. Ab Herbst 2017 soll er in fünfzig Kindergartengruppen in Oberösterreich ausprobiert werden, ab Herbst 2018 dann in allen Kindergärten. In der Projektphase müssen die Eltern noch zustimmen, weil die rechtlichen Grundlagen noch nicht geschaffen wurden. Der oberösterreichische Landeshauptmann Thomas Stelzer stellt sich aber eine automatische Datenweitergabe vor: «Der Bund ist daher gefordert, eine gesetzliche Grundlage zu schaffen, um Daten an die nächste Bildungseinrichtung weitergeben zu können.»

Ist es wirklich sinnvoll, dass jede Bildungsinstitution auf die Daten der vorhergehenden zugreifen kann? Jeder weiß doch, wie schwierig es ist, einmal vorhandene Informationen auf die Seite zu stellen und einem Menschen ganz unvoreingenommen zu begegnen. «Priming» heißt in der Psychologie der Effekt, dass vorhandenes Vorwissen die Wahrnehmung verändert. Mit der Datenweitergabe besteht die Gefahr, dass Lehrer_innen durch Informationen, die sie von einem Kind haben, so stark beeinflusst werden, dass sie das Kind immer wieder zu dem machen, was in der Akte schon steht.

Überwachen und Strafen.

Auch am anderen Ende der Schule macht sich die Datensammlerei breit: Das Jugendcoaching ist ein neues Angebot für Schülerinnen und Schüler, die Schwierigkeiten in der Schule oder bei der Suche nach einer Lehrstelle haben. Das war bisher ein freiwilliges Angebot. Dem Selbstverständnis nach soll es nicht nur bei berufsbezogenen Problemen helfen, sondern auch bei persönlichen Problemen, die beim Einstieg in die Arbeitswelt hinderlich sein könnten. Das hört sich nach vertraulichen Informationen an, und deshalb ist es auch verwunderlich, dass die Sozialarbeiter_innen nicht der Schweigepflicht unterliegen, sondern alles brav in den Computer eintippen müssen. Die Daten landen dann auf dem Bundesrechner, obwohl sich viele Jugendcoaches fragen, ob sie da wirklich hingehören und ob es sinnvoll ist, einen Großteil seiner Arbeitszeit für die Datenerfassung im «Monitoring Berufliche Integration» zu verwenden.

Ab diesem Herbst spitzt sich die Situation noch einmal zu: Die «Ausbildung bis 18» genannte Ausbildungspflicht sieht vor, dass alle Jugendlichen, die nicht mehr auf der Schule, aber noch nicht 18 sind, sich in einer Lehre oder einer Bildungsmaßnahme befinden müssen. Für die Eltern der Jugendlichen, die der Ausbildungspflicht nicht nachkommen, sind Strafen zwischen 100 und 1000 Euro vorgesehen. Um herauszufinden, ob jemand versucht, sich der Ausbildungspflicht zu entziehen, müssen alle mitschnüffeln: Lehrdamen und Lehrherren müssen einen Abbruch der Ausbildung genauso melden wie die Schule, die Einrichtungen, die die Bildungsmaßnahmen durchführen und die Eltern. Und die Jugendcoaches, die sich nun auch um die Jugendlichen kümmern sollen, die die Ausbildungspflicht nicht erfüllen wollen, müssen gleich das nächste System mit Daten befüllen: Das «Monitoring System Ausbildung bis 18». Alles höchst zweischneidig. Gut, dass es Angebote für Jugendliche gibt, fragwürdig aber die Datenkontrolle und Weitergabe.

Der durchsichtige Kurt.

Professor Pachel hätte seine Freude mit dem Datensalat und der daran hängenden Diagnostik. Kurt dagegen wurde seine Diagnose nicht mehr los. Sie ging ihm immer schon voraus. Im Kindergarten lagen die Testbeschreibungen schon beim Anmelden auf, in der Schule beugte sich der Direktor über die Blätter, noch bevor er eine erste Frage an den Sechsjährigen richtete. In der Ausbildung wusste der Lehrherr schon am Abend vorm Vorstellungsgespräch, was die Kindergärtnerin über Kurts Teamfähigkeit geschrieben hatte. Was immer er versuchte, seine Daten eilten ihm stets voraus. Was immer er sein wollte, die Prophezeiung wusste es bereits.

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