Investigative Stadterkundungen eines Architekturjournalisten
Der Titel des neuen Buches von Wojciech Czaja klingt wie der fiktive Name eines kasachischen Zentrums für Obstweinherstellung: Almost. Der freischaffende Journalist verwendet diesen Begriff jedoch in seiner banalen englischen Bedeutung als Titel für sein «optisches Lesebuch», das er von Wien gemacht hat.
Der Vielreisende legte vor zwei Jahren mit Hektopolis einen Reiseführer in hundert Städte (in rund 70 verschiedenen Ländern) vor, eine leichte Aufgabe im Vergleich zum neuen Werk, für das er einhundert Städte in Wien ausfindig gemacht hat.
Dabei hilfreich ist der Lockdown im Frühling gewesen, als Czaja «kaum über die Wiener Stadtgrenze hinausgekommen» sei. Auf einer Fahrt mit dem Motorroller durch Meidling erheischte der Autor ein Stimmungsbild von Tel Aviv in Form von «vier abgerundeten Balkonbändern, die sich ums Gebäudeeck schmiegen». Er machte von diesem «auf den ersten Blick normalen gründerzeitlichen Haus» mit dem Smartphone einen «Schnappschuss», der sich noch als Auftakt einer mittlerweile beinahe überbordenden Facebook-Fotoserie mit dem Titel Almost erweisen sollte.
Einhundert Aufnahmen fanden nun den Weg ins Analoge, zwischen zwei Buchdeckeln. Dass Wien eine Zuwanderungsstadt ist, ist hinlänglich bekannt, aber dass Wien auch als architektonischer Schmelztiegel wahrgenommen werden soll, dafür leistet dieses optische Lesebuch unbezahlbare Aufklärungsarbeit. Oder hatten Sie eine Ahnung davon, die Costa Brava auf der Wieden, am Mozartplatz, erleben zu können. Dass ein Gebäude im Helsinki-Style in Atzgersdorf errichtet worden ist? Oder ein Stiegenhaus im dritten Bezirk, am Rudolf-Salinger-Platz, Dessau suggeriert? Und wer es dieser Tage wärmer und coronabedingt steriler haben möchte, braucht nur raus nach Dubai, äh, in die Seestadt Aspern, zur Janis-Joplin-Promenade, zu fahren. Kurzum, ein Städte-in-der-Stadt-Führer, der mit viel Liebe zum Detail und ein bisschen Augenzwinkern Wien von der Maschekseite präsentiert.
Wojciech Czaja:
Almost. 100 Städte in Wien
Edition Korrespondenzen 2020
232 Seiten, 20 Euro