«Wo wir sind, ist Hotspot»tun & lassen

Was auf der «Wiener Wiesn» geht, ist am Praterstern verboten

Seit sechs Monaten herrscht am Praterstern Alkoholkonsumverbot. Vorgeblich

sollten damit problembehaftete Situationen entschärft werden, tatsächlich trifft das Verbot aber vor allem Marginalisierte. Christof Mackinger hat sich umgesehen.

Illustrationen: Lisbeth Kovačič

Dienstag, früher Abend, Praterstern: Auf der dem Wurstelprater zugewandten Rückseite der Station sammeln sich Gruppen junger Menschen, um gemeinsam in den Prater zu gehen. Auf der Kaiserwiese findet derzeit die «Wiener Wiesn», ein Nachbau des Münchner Oktoberfests, statt. Erkennbar an ihrer folkloristischen Verkleidung, die Frauen tragen Dirndln, die Männer Lederhosen, nutzen viele die Wartezeit, um mit Dosenbier günstig «vorzuglühen». Daneben marschiert eine vierköpfige Gruppe junger Männer in Tracht grölend in Richtung Kaiserwiese. Die Leute drum herum schauen unangenehm berührt.

Der U-Bahn-Aufgang auf der der Innenstadt zugewandten Seite vom «Stern» dient seit Jahren verschiedensten Menschen als Treffpunkt, darunter auch Wohnungslosen, Pensionist_innen, Drogennutzer_innen, Jugendlichen. «Rund um den Praterstern gab es gewaltvolle Vorfälle, die aber mit den Menschen, die am Praterstern Alkohol konsumiert haben, nichts zu tun hatten», erzählt Ewald Lochner, Koordinator für Psychiatrie, Sucht- und Drogenfragen der Stadt Wien. «In der Berichterstattung und im politischen Diskurs der Opposition wurde das aber massiv vermischt.» So wurde etwa der eigentlich unattraktive Betonplatz medial zum Hotspot erklärt. Am «Stern» selbst habe es auch «zwei, drei Vorfälle» gegeben, die zum Anlass genommen wurden, das Alkoholkonsumverbot durchzusetzen. «Wenn ich über Jahre in der Zeitung lese, am Praterstern ist ab 17 Uhr nur mehr Mord und Totschlag, dann fürchte ich mich auch», meint Lochner.

2017 hat die Stadt Wien bei Lochner eine Studie in Auftrag gegeben, Alkoholverbote und ihre Folgen in anderen Städten zu untersuchen. Der Befund: Verbote müssen permanent exekutiert, also repressiv durchgesetzt und in manchen Fällen auch örtlich ausgeweitet werden. Außerdem: Die betroffenen Konsument_innen hören nicht einfach auf zu trinken, sondern tun dies im Verbotsfall eben anderswo. Sie werden verdrängt.

Christoph Stoik, Professor für Soziale Arbeit an der FH Campus Wien findet allerdings den Praterstern einen gar nicht so unpassenden Ort als Treffpunkt: «Hier gibt es immerhin eine gewisse Infrastruktur. Im wohnnahen Raum kann der Aufenthalt vieler Leute mehr Probleme bringen, als am Praterstern mit einer Verdrängung gelöst werden.»

Nichtsdestotrotz: Mit 27. April 2018 trat das erste Alkoholverbot Wiens in Kraft – «im Pilotbetrieb für ein Jahr, dann wird evaluiert», so Ewald Lochner. Stoik nennt das Verbot «reine Symbolpolitik, auf Kosten der Menschen».

Pragmatische Handhabe.

Zwei Polizisten schlendern am U-Bahn-Aufgang vorbei. Ein Grüppchen junger Menschen macht höflich Platz. Die Blicke der Beamten schweifen über die Getränke der Anwesenden. Unweit, an die Wand gelehnt, steht Wolfgang. Der pensionierte Koch geht seit Jahren zum Praterstern «auf einen Kaffee». Er wohnt in der Nähe und trinkt selbst seit drei Jahren keinen Alkohol mehr. Der charismatische Mann meint, dass durch das Alkoholverbot einige Leute nicht mehr auftauchen würden. «Dabei gehört die Stadt doch uns allen», sagt Wolfgang. Eigentlich sei der «Stern» je eine «Begegnungszone», für die unterschiedlichsten Leute. «Ganz Wien ist der Praterstern. Wo wir sind, ist Hotspot.»

Eine pragmatische Herangehensweise hat Wolfgangs Bekannter, Edgar. Er steht mit einem Fuß im Vorraum vom Türkis, einem Imbiss, der auch Dosenbier verkauft. «Drinnen darf man trinken, draußen darf man rauchen», erklärt der Mann im Hawaii-Hemd schmunzelnd. Er macht einen Schritt bei der Tür rein, nimmt einen Schluck von seiner Dose Bier, stellt sie ab, und zwei Schritte später zieht er schon im Freien an seiner Zigarette – völlig gesetzeskonform. Der Verkäufer im Türkis schüttelt belustigt den Kopf: «Schade für die Leute, die nach der Arbeit ihr Feierabend-Bier trinken wollen.» Vor dem Lokal darf man das nämlich nicht mehr.

Taschenkontrolle.

Verboten ist aber nicht nur das Trinken. In der städtischen Verordnung heißt es, das Verbot greife auch, wenn «auf Grund der gesamten äußeren Umstände darauf geschlossen werden kann, dass eine Konsumation [mitgeführter alkoholischer Getränke] stattfindet oder unmittelbar bevorsteht». Auf einer der wenigen Bänke am Vorplatz sitzen drei Männer, zwei aus Polen, einer aus Russland stammend. Die Polizei mache immer wieder Taschenkontrollen. «Die kennen uns schon», erzählt der Jüngste von den dreien. Haben Mirosław oder seine Freunde Alkohol dabei, muss der vor den Augen der Beamt_innen in den Gulli entleert werden – selbst verschlossene Flaschen. Auf Anfrage bestätigt ein Sprecher der Polizei Wien diese Praxis. «Für uns ist das aber viel Geld, wir sind ja Sandler», erzählt einer der Männer. Vom Alkoholverbot lassen sich die drei trotzdem nicht beeindrucken. Nach einem kurzen Blick über die Schulter zieht Mirosław eine Weinflasche aus seiner verbeulten Lederjacke, nimmt einen kräftigen Schluck und reicht sie weiter. «Wir sind Alkoholiker, wir können nicht anders», erklärt er. «Ich bin seit 15 Jahren am Praterstern, und ich werde hier bleiben, auch wenn es jetzt gerade scheiße ist», sagt Mirosław und lässt den Wein routiniert wieder verschwinden. «Länger!», wirft Dimitri, sein Sitznachbar, mit scheppernder Stimme ein, «wir sind schon länger hier.»

Die Offenheit der Menschen am Praterstern und ihr Humor lässt fast vergessen, dass das Leben mit der Sucht kein leichtes ist. Erst vor wenigen Monaten ist ein Bekannter von Mirosław in der Wiese neben ihnen verstorben. Er sei an seinem Erbrochenen erstickt, erzählt man.

Auch Yvonne hatte hier schon unangenehme Erlebnisse. Die junge Frau ist seit Jahren am Praterstern. Sie befürworte das Alkoholverbot zwar nicht, sie kann aber verstehen, wenn Leute manches, was sich hier abspielt, stört. «Gerade als Frau kann man sich hier schon mal fürchten, wenn man ohne Freunde da ist.»

Suchende Sozialarbeit.

Durchaus positiv schätzen Ewald Lochner von der Stadt Wien und die Polizei die Ergebnisse des Alkoholverbots ein. Die Anzahl Marginalisierter am Praterstern sei zurückgegangen, ebenso die Zahl der Anzeigen, von denen sehr viele im Zusammenhang mit Alkohol gestanden seien. «Auch die Einsätze wegen ‹Regloser› sind drastisch gesunken», so Patrick Maierhofer, Pressesprecher der Wiener Polizei.

Doch zu welchem Preis? Eigenen Angaben zufolge sind im letzten Halbjahr dafür 730 Anzeigen und 923 Abmahnungen wegen Verstößen gegen das Alkoholverbot erteilt worden. Kein Wunder, dass Leute den Ort wechseln, um sich zu treffen. Das macht allerdings die Arbeit für die Streetworker_innen schwieriger, die sowohl im Auftrag der Stadt Wien als auch vom Tageszentrum Das Stern aus am Praterstern – und zuletzt auch im Umfeld – unterwegs sind. Die aufsuchende wird zur suchenden Sozialarbeit. Seit dem Alkoholverbot lassen sich mehr Menschen, die vom Praterstern vertrieben wurden, in der Prater Hauptallee oder an anderen Verkehrsknotenpunkten der Stadt nieder. Das bestätigt auch Martina Pint, Leiterin des nahegelegenen Das Stern. Dort können Menschen konsumfrei Zeit verbringen, ihr Handy aufladen, Wäsche waschen, kochen und sich im Winter aufwärmen. Im Tageszentrum in der Darwingasse, ein paar Straßen vom Praterstern entfernt, darf man sogar Alkohol genießen, erklärt Pint. «Harter Alkohol ist bei uns aber verboten.»

Exklusive Übergabe.

Bald, an den ersten kalten Tagen, werde man aber auch hier die Effekte der Verdrängung vom Praterstern sehen. «Im Winter werden wir sicher mehr als ein volles Haus haben», prognostiziert Pint. Wenn sich 55 Leute im Tageszentrum befinden, muss die Tür für weitere Bedürftige verschlossen bleiben. «Wichtig wäre es, mehr Alternativen für Wohnungslose zu haben». Das betont auch Ursula Lichtenegger. Für die grüne Bezirksvorsteherin der Leopoldstadt ist das Alkoholverbot am Praterstern nicht mehr als eine «populistische Scheinlösung». Stattdessen brauche es in der Nähe vom Praterstern weitere Tageszentren und auch ein Nachtzentrum für Obdachlose.

Ismael und seine Freund_innen tangieren diese Fragen kaum. Am Anfang der Prater Hauptallee, im Halbdunkel, haben sie es sich mit Klappstühlen und Salsamusik aus einem Radio gemütlich gemacht. Hier trinken sie ihr Feierabendbier. Davor am selben Abend haben Securities sie auch schon von der Kaiserwiese vertrieben. Und bis vor sechs Monaten waren sie am Praterstern. «Ich weiß nicht, was ich vom Verbot halten soll», erzählt der Mann aus der Dominikanischen Republik. Mit Ismael sitzen Menschen aus Afrika, Südamerika und Österreich zusammen und trinken Bier. «Zu uns, in die Dominikanische Republik, kommen viele Touristen aus Österreich und betrinken sich, wo auch immer sie wollen. Aber hier soll ich das nicht dürfen?»