Mit dem 500-Schilling-Schein hätte auch gleich die Psychiatrie verschwinden müssen
Dass eine öffentliche Ader in Wien, und sei es auch nur ein unbedeutender Weg im 14. Bezirk, nach dem Rassenhygieniker Wagner-Jauregg benannt ist, kann als Signal verstanden werden: Auch in dieser Stadt wird, wie fast überall sonst, die alte Psychiatrie betrieben. Zwar in liberalisierter, modernisierter Form, aber im Grunde als Fortsetzung der Technik des Ausschlusses «ökonomie-unverträglicher» Menschen.Nicht einmal vom Namen des Gemeindebaus in der Lustkandlgasse im 9. Wiener Gemeindebezirk wollen sie sich trennen, die so genannten Antifaschisten.
Es ist für uns WienerInnen kein Trost, dass in Oberösterreich der Wagner-Jauregg-Kult noch penetranter wirkt. Selbst im «Gedenkjahr» 2005 hatte das Land Oberösterreich «keinen Handlungsbedarf» für eine Umbenennung der nach Wagner-Jauregg benannten Landesnervenklinik als auch der nach ihm benannten Straßen in Linz und Wels gesehen. Man berief sich auf eine Historikerstudie. Der Mediziner sei «nicht historisch belastet» und seine Behandlungsmethoden seien für die damalige Zeit üblich und «ethisch vertretbar» gewesen.
Die Autoren Wolfgang Neugebauer und Peter Schwarz bewerteten das oberösterreichische Historiker-Gutachten als eine Reinwaschung von Julius Wagner-Jauregg. In seinen Wiener Antrittsvorlesungen der Jahre 1893 und 1894 war die spätere Mainstream-Ideologie der österreichischen Psychiatrie der 30er Jahre schon vorformuliert. Stichwörter: Rassenhygiene, Rassenbiologie, Vererbung der Geisteskrankheiten, Eugenik, unwertes Leben. Der Schutz der Gesellschaft vor «asozialen Elementen» war das oberste Gebot dieses Mediziners, der nach dem Tod seines Gegenspielers, des Psychiaters Krafft-Ebing (1902), in Wien praktisch das Monopol auf die Ausbildung von Neurologienachwuchs innehatte.
Wenn ihn die Katharina Schratt nicht befreit hätte …
Nachdem er den Volksschauspieler Alexander Girardi, Popstar der Jahrhundertwende, als wahnsinnig begutachtet hatte, ohne mit ihm je geredet zu haben, formierte sich eine erste «antipsychiatrische Bewegung»; allerdings führte sie dazu, dass sich die Kollegenschaft noch mehr um ihren Führer Wagner-Jauregg scharte, der unter dem Titel «Kampf der Psychiaterhetze» eine imaginäre Einigkeit der Ärzteschaft erzeugte; jüdische Ärzte waren auf dem Feld der Psychiatrie schon längst nicht präsent gewesen nicht, weil sie nicht wollten, sondern weil man sie nicht ließ, lange vor Hitler und dem Spiegelgrund/Steinhof/Baumgartner Höhe-Todesarzt Gross. Übrigens, Girardi wurde zwangspsychiatriert und konnte der drohenden Auslöschung seiner Persönlichkeit nur dank seiner Beziehung zur Geliebten des Kaisers, der Frau Schratt, entkommen.
Das Girardi-Gutachten des Star-Nervenarztes war ein Gefälligkeitsgutachten. Gefällig war er dem Baron Rothschild. Der war der neue Liebhaber der Frau Girardis, der Schauspielerin Helene Odilon. Sie war es gewesen, die es schon fast geschafft hätte, den berühmten Nestroy-Interpreten als entmündigt aus dem Verkehr zu ziehen. Gefälligkeitsgutachten soll es auch heute noch geben. Und die «Ferndiagnose» Wagner-Jaureggs im Fall Girardi ist nicht wesentlich ungenauer als psychiatrische Diagnosen nach tatsächlichen Untersuchungen am Patienten.
Auf Grund der Hegemonie der amerikanischen Wissenschaft im Sog der ökonomischen Durchdringung der Welt durch die USA ist das offizielle Diagnosehandbuch der US-Pschychiater-Assoziation das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM, Handbuch für Diagnose und Statistik bei mentalen Störungen), fast weltweit als «Bibel der Psychiatrie» akzeptiert worden.
Das Diagnosehandbuch wird immer schöner
Das Diagnosehandbuch wird immer dicker, weil immer mehr Zustände und Handlungsweisen als «Störungen» (gegen die selbstverständlich gleich die entsprechenden Medikamente am Markt sind) aufgelistet werden. Am Beispiel der Depression lässt sich die Interessensgeleitetheit der DSM-«Nachbesserungen» zeigen. Es ist seit der Antike bekannt, dass durchschnittliche Menschen, die kürzlich einen schweren Verlust erlitten haben, insbesondere den eines geliebten Partners oder Kindes, die gleichen Symptome aufweisen können, die auch auf eine schwere depressive Störung hinweisen: Traurigkeit, Schlaflosigkeit, Erschöpfung, Antriebslosigkeit, Appetitlosigkeit. Deshalb werden im gegenwärtig gültigen Diagnosehandbuch unlängst Hinterbliebene von der Diagnose der Depression ausgenommen. Richtig: Es kann ja nicht sein, dass man für krank erklärt wird, wenn man traurig ist. Im Gegensatz dazu wird im nun reformierten Diagnosehandbuch vorgeschlagen, die Ausnahme bei einem Trauerfall zu streichen.
Die Folge: eine umfangreiche Medikalisierung der Traurigkeit. Eltern, deren Kind schwer krank ist, Verheiratete, die die außerehelichen Affären ihrer Partner entdecken, oder Arbeitnehmer, die unerwartet ihren geschätzten Job verlieren, leiden nach dieser Definition unter einer psychischen Störung, wenn sie genügend Symptome entwickeln, um die DSM-Kriterien zu erfüllen.
PsychiatriekritikerInnen punkten mit einer simplen Kombination: «Wem nützt die Medikalisierung von Traurigkeit? Der Pharmaindustrie und dem medizinischen Betrieb.» Millionen Menschen suchen jetzt «professionelle Hilfe» in Fällen, bei denen sie bisher in bewährter Form ihre Trauer selbst und mit Hilfe von vertrauten Menschen bewältigten. Depressionen sind mittlerweile das am häufigsten diagnostizierte Leiden bei ambulanten Patienten in psychiatrischer Behandlung. Der Absatz an Antidepressiva ist in die Höhe geschnellt.
Die Unwissenschaftlichkeit des Diagnosewesens lasse sich am Beispiel der Depression leicht demonstrieren. Gefährlicher werde diese Unwissenschaftlichkeit im Kleid der Wissenschaft im Fall von Diagnosen, die zur Kontrolle abweichenden Verhaltens führen, meinen TheoretikerInnen und PraktikerInnen der «Antipsychiatrie» (siehe dazu Info-Quellen am Schluss). Im Zentrum dieser «Kontrollwissenschaft» stehe der Begriff des Wahnsinns, der diagnostisch gewöhnlich unter «Psychose» läuft. Schon um die vorletzte Jahrhundertwende haben die Anti-Wagner-Jaureggs besonders in den anarchistischen und dadaistischen Szenen nach 1900 gab es starke antipsychiatrische Strömungen die Position vertreten, dass das Kriterium für die Liebenswürdigkeit einer Gesellschaft die Antwort auf die Frage sei: Wohin mit dem Wahnsinn, wenn nicht in die Anstalt?
Der Wahnsinn und die Sprache der Post-Spiegelgrund-Medizin
Wenn man im Augustin-Projekt arbeitet, kann man die Skepsis gegenüber dem psychiatrischen System gut nachvollziehen. Wenn die stigmatisierenden Folgen der anhaltenden Diagnostizierungswut des Psychiatriesystems nicht so traurig wären, müsste man lachen über die Phantasie der Diagnostiker, die den Ehrgeiz zu entwickeln scheinen, möglichst das komplette Rekrutierungsfeld der Augustin-StraßenkolporteurInnen zu pathologisieren, während sie es vermutlich für billige populistische Rhetorik hielten, die Verseuchung des Ozeans durch Öl im Interesse höherer privater Gewinne als pathologisch zu bezeichnen. Für Planetenzerstörer sind keine Anstalten errichtet worden, bloß für Zerstörer geordneter und beschaulicher Büroabläufe in den Häusern der Fürsorgebürokratie.
Peter Loslasser (Name geändert), Augustinverkäufer mit langjähriger Psychiatrieerfahrung, hat uns einen Einblick in seine Krankengeschichten, seine Diagnosen und in die ärztlichen Beschreibungen des jeweiligen Aufnahmestatus gewährt mit der Bemerkung, ihre Lektüre möge uns genauso amüsieren wie ihn in den Zeiten des klaren Kopfes. Von uns willkürlich ausgewählte Beurteilungen eines normabweichenden Menschen durch Fachkräfte der Seelenkunde (zumeist aus dem psychiatrischen Krankenhaus Baumgartner Höhe) werden aneinander gereiht; die Inhumanität der Sprache der Medizin wird dadurch ebenso evident wie die Beliebigkeit der Diagnosen und die verheerende Bereitschaft der Medizin, ihren Patienten alles aufzudrängen, was die Pharma-Industrie auf den Markt wirft. Einmal umblättern, und Sie finden diese Sammlung im Text «Tanz der Diagnosen».
Peter Loslasser, vulgo ein für die Turbowirtschaft Unbrauchbarer, bräuchte einen Job, aus dem er sich temporär zurückziehen kann, wenn es ihm psychisch schlecht geht. Er bräuchte also bloß eine Wirtschaft, die sich an die Menschen anpasst, anstelle einer Ökonomie, an die sich die Menschen anzupassen haben. Um das zu erreichen, müsste man bloß die Bedingungen des Augustinvertriebs in die Gesamtwirtschaft implantieren. Wahnsinnig leicht ginge das, kichert der Verfasser.
Info:
Quellen:
Jerome C. Wakefield, Konzeptionelle Verletzung der Sorgfaltspflicht in der Psychiatrie, www.project-syndicate.org
Wolfgang Neugebauer/Kurt Scholz/Peter Schwarz (Hg.): Wagner-Jauregg im Spannungsfeld politischer Ideen und Interessen, Julius Verlag
Brügge, Claudia: Wohin mit dem Wahnsinn? Ausgewählte Aspekte der Kontroverse um Anstaltspsychiatrie und mögliche Alternativen, Antipsychiatrie Verlag
Lehmann, Peter/Peter Stastny (Hg.): Statt Psychiatrie 2, Antipsychiatrie Verlag