Wohin und zurück?vorstadt

Über Bahnhofsrestaurationen (1/5)

In den letzten zwei Jahrzehnten haben sich Bahnhöfe in Einkaufszentren verwandelt. Damit sind auch die klassischen Bahnhofsrestaurants obsolet geworden. Chris Haderer (Text und Fotos) befasst sich in fünf Folgen mit dem Aussterben dieser Gastro-Spezies.

Es war einmal … der Südbahnhof.

In einem Jahrzehnt, so schätze ich, wird er in Vergessenheit geraten sein, so wie auch eine ganze Generation keine Ahnung mehr davon hat, dass es eine Zeit ohne Smartphone und Internet gab. Dort, wo sich der 1841 eröffnete Gloggnitzer Bahnhof befand, der als «erster» Südbahnhof in die Geschichte einging, bevor er zweimal komplett umgebaut wurde, zuletzt 1956, findet man nur noch eine unterirdische Schnellbahnstation namens «Haltestelle Wien Quartier Belvedere». Es war der größte Bahnhof Österreichs, bis er am 12. Dezember 2009 stillgelegt und durch den ersten Hauptbahnhof in der Geschichte von Wien ersetzt wurde. Den Abbrucharbeiten, die am 4. Jänner 2010 begannen, fiel auch das altehrwürdige Bahnhofsrestaurant im Zwischengeschoss zum Opfer. Wir kannten uns damals fast 30 Jahre, bevor die Abrissbirne unsere Beziehung beendete. Das Restaurant war ursprünglich eine große und mehr oder weniger schmucklose Halle, bis es in den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts modernisiert wurde. Ich mochte das Lokal, von dem man Süd- und Ostbahn einfach erreichen konnte. Genau genommen war es ein geheizter Wartesaal, der von Fernreisenden, Pendler_innen und Trinker_innen frequentiert wurde. Das Gulasch war eines der besten entlang der Schiene in den Süden – und auch wenn der britische Historiker Tony Judt von einem «trostlosen, wenig einladenden Südbahnhof» spricht, einem «heruntergekommenen, düsteren Treffpunkt armer Ausländer», so hatte er dennoch Charme und Charakter. Einer dieser «armen Ausländer» war beispielsweise Nikita Chruschtschow, der 1961 am Südbahnhof ankam, um sich in Wien mit John F. Kennedy zu treffen.

Man trifft keine Leute mehr.

Die Gegend um den Kopfbahnhof war in den 90er-Jahren durchaus eine Katastrophe – das Bahnhofsrestaurant hingegen ein sicherer Hort, in dem man die Zeit bis zur Abfahrt des Zuges totschlagen konnte. Es war ein Platz, an dem man interessanten Menschen und Verrückten begegnen konnte, ohne sich Sorgen machen zu müssen. Am neuen Hauptbahnhof, in dem es keine designierten Raucherzonen mehr gibt, ist Sorge sehr wohl angebracht – vor allem um das Reisegepäck. Konnte man sich im alten Restaurant gemütlich zurücklehnen ohne seinen Koffer bewachen zu müssen, warnt die ÖBB am neuen Hauptbahnhof permanent vor Diebstahl. Ein Bahnhofsrestaurant gibt es nicht mehr, stattdessen eine Ansammlung von Shops, Stores und Fastfood-Läden. Man wartet nicht mehr in den hermetischen Wänden eines Lokals, sondern direkt in der Halle, die den Charme einer Burger-King-Filiale versprüht. Der Bahnhof ist moderner geworden, ein durchaus notigwendiger Schritt – der allerdings ohne Sensibilität für die Vergangenheit getan wurde. Seit der Aufnahme des Vollbetriebs im Jahr 2015 verdüstert sich die Erinnerung: Wo war eigentlich das Bahnhofsrestaurant mit seinen Schnitzeln und dem Gulasch? Wo war das Stehbuffet, an dem es ebenfalls Gulasch gab, und auch Bier und Hendln? Man trifft am Hauptbahnhof keine Leute mehr, man geht an ihnen vorbei oder steht hinter ihnen in der Schlange. «Der Bahnhof weiß nur von Freuden oder Tränen», bemerkte der Schriftsteller William Faulkner und hat auf bizarre Weise recht: Wer heute eine Reise antritt, kann sich nicht mehr einstimmen, den Abschied von der Stadt langsam im Restaurant begehen und dann mit der Rolltreppe zum Zug hinauffahren – man kann nur noch still in seinen Döner weinen.

Im Westen nichts Neues.

«Der Mond stand mitten in der Sonne, aber nicht mehr als schwarze Scheibe, sondern gleichsam halb transparent wie mit einem leichten Stahlschimmer überlaufen, rings um ihn kein Sonnenrand, sondern ein wundervoller, schöner Kreis von Schimmer, bläulich, rötlich, in Strahlen auseinanderbrechend, nicht anders, als gösse die obenstehende Sonne ihre Lichtflut auf die Mondeskugel nieder, daß es rings auseinanderspritzte – das Holdeste, was ich je an Lichtwirkung sah!» Mit diesen Worten beschrieb Adalbert Stifter die totale Sonnenfinsternis vom 8. Juli 1848. Es war ein Ereignis, das sich erst 151 Jahre später wiederholen sollte, im August 1999: da saß ich auf der Terrasse der Restauration am Wiener Westbahnhof. Von einer Seite dröhnte der Verkehrslärm vom Gürtel herauf, von der anderen Seite das Grölen der Sandler, die sich im Park vor dem damaligen Postamt mit Rotwein zuschütteten. Gegen Mittag wurde es dunkel über Wien und sehr still. Der Gastgarten der Bahnhofsrestauration, die sich im ersten Stock auf der Höhe der Gleise befand, war voller Menschen, die fasziniert zum Himmel starrten: Dutzende nach oben gereckte Köpfe, die meisten hatten dunkle Brillen aus Pappmaché und Folie auf der Nase, wie sie als Beilage in fast allen Zeitungen zu finden waren. Für eine gute halbe Stunde bemühten sich kein Ober um die Ausschank und kein Koch um das Essen. Dann wurde es langsam wieder hell, und der Bahnhof kehrte in den normalen Zeitablauf zurück.

Eröffnet wurde der Wiener Westbahnhof zehn Jahre nach Stifters Sonnenbeobachtung – und knapp zehn Jahre nach «meiner» Sonnenfinsternis war seine beste Zeit zu Ende. Im Zuge der österreichweiten «Bahnhofsoffensive» der ÖBB wurde er ab 2008 für etwa 200 Millionen Euro renoviert und im Herbst 2011 als Einkaufszentrum wiedereröffnet. Die Bahnhofshalle, die ursprünglich 1951 aus der Taufe gehoben wurde und bis heute unter Denkmalschutz steht, ist geblieben, der Rest ist Geschichte. Ein traditionelles Bahnhofsrestaurant gibt es – wie mittlerweile in den meisten österreichischen Großbahnhöfen – nicht mehr. Stattdessen beherrschen Fastfood-Läden die Szene, die mit Reisen im ursprünglichen Sinn nichts mehr zu tun haben. Wer Richtung Westen fährt, kann sich vor Fahrtantritt nirgends mehr gemütlich niederlassen und sich bei einem Getränk oder einem Essen auf die Reise einstimmen. Man kann die Zeit nicht mehr für einen Moment anhalten, den Blick durch das Restaurant schweifen lassen, über die gedeckten Tische, und sich fragen, ob man sich im Kiosk auch genügend Lesestoff für die Fahrt besorgt hat. In der verblichenen Bahnhofsrestauration, in der man sich von Wien angemessen verabschieden oder auch in der Stadt entspannt ankommen konnte, war alles anders als anderswo: Die Toilette lag einen Stock höher und war über eine Treppe im Gastlokal erreichbar, sodass man auch einen Eindruck bekam, welche Art von Gästen anwesend waren, Reisende, Trinkende, Gulasch-Essende oder eine Mischung aus allem. Jetzt gibt es am Westbahnhof kein Gulasch mehr, und dort, wo sich das Restaurant befand, ist nun ein Teil des Einkaufszentrums.

Bahnhöfe sind austauschbar geworden.

Der mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnete Autor Wilhelm Genazino sagte einmal: «Wie immer, wenn ich in Bahnhöfen oder Zügen bin, schlage ich mich mit dem Gefühl herum, wir müssten einer schlimmen Sache entkommen.» Ich werde das Gefühl nicht los, dass Genazino mit seiner Aussage den heutigen Charakter des ehemaligen Kaiserin-Elisabeth-Bahnhof beschreibt, der sich nun als BahnhofCity Wien West definiert, die auf drei Stockwerken etwa 90 Geschäfte beherbergt. Das entspricht zwar der Sichtweise von Markwart Herzog und Mario Leis, die einen Bahnhof als «Symbol und Verdichtungsraum von Modernität, Urbanität und Industrialisierung» beschreiben, macht den Wandel zur bloßen Zugabfertigungseinrichtung, bei der Geschwindigkeit die Hauptrolle spielt, allerdings nicht sympathischer: «Bahnhöfe sind im wirklichen Leben ebenso wie in Romanen und Filmen markante Schauplätze großer und kleiner Schicksale», schreiben die Autoren weiter. «Abschied und Wiedersehen geben sich hier ein Stelldichein.» Bloß weiß man in der schönen, neuen Bahnhofswelt nicht mehr, wo Abschied und Wiedersehen verortet sind, weil die Bahnhöfe austauschbar und seelenlos geworden sind, sich zwar äußerlich durch die Fassade unterscheiden, im Inneren aber nur noch ökonomischen Prinzipien folgen. In den Gedärmen dieser Anlagen gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Wien, Linz, Graz, Villach oder Salzburg (wo sogar der unter Denkmalschutz stehende Marmorsaal zerstört wurde). Als Reisender ist man nicht mehr an einem bestimmten Ort, sondern überall und nirgends zugleich. Die «Basilika der Moderne», wie Herzog und Leis Bahnhöfe in ihrem gleichnamigen Buch bezeichnen, ist tot. Im 19. Jahrhundert «nahmen sie die Gestalt von Basiliken, Palästen an, dekoriert mit Putz, Plüsch und Prunk. Ihre Hallen, Wartesäle und Speiselokale glichen Ballsälen mit Kassettendecken, Karyatiden, Keramiklandschaften, vergoldeten Säulen und Bronzelampen», schreibt Von Kardorff in «Säle der verlorenen Schritte.» An diese Zeit erinnert am Wiener Westbahnhof nur noch eine Statue von Kaiserin Elisabeth, die von der Fassade nach der Renovierung in die untere Halle übersiedeln musste.

«Ein Bahnhof ist schön», protokollierte der französische Schriftsteller Émile Zola vor über 180 Jahren – und irrte, so wie auch Stefan Zweig: «Jeder Bahnhof ist anders, jeder reißt eine andere Ferne in sich hinein.»