Grundbedürfnis Wohnen auf dem Prüfstand
Vom sozialen Wohnbau mit Vorzeigecharakter bis zur sozialökonomisch arbeitenden Hausverwaltung: Wohnen ist in Graz irgendwie anders, hat Chris Haderer (Text und Fotos) festgestellt.
Foto: Der Griesplatz in Graz
Graz verändert sich. Die Stadt ist zwar pleite, dennoch wird gebaut, dass es eine Freude ist. Bauträger_innen sind vor allem Private: «Es gibt in Graz im Moment fast 11.000 bewilligte Bauvorhaben», sagt KPÖ-Vizebürgermeisterin Elke Kahr, die seit 2005 das Wohnungsressort verwaltet. «Anleger_innenwohnungen boomen.» Etwa 500.000 Menschen arbeiten in der steirischen Hauptstadt, aber nur knapp 300.000 haben hier ihren Hauptwohnsitz. Die Stadt braucht Platz, aber neuer Wohnraum wird immer teurer. Viele Bauvorhaben «gehen auf Kosten von alten Bausubstanzen oder Einfamilienhäusern, die von Immobilienfirmen aufgekauft und zu hochpreisigen Wohnungen umgebaut werden», so Kahr. Die Folge: Die Einwohner_innenstruktur ganzer Stadtteile verändert sich. «Am rechten Murufer, quasi dem ehemaligen Arbeiterviertel von Graz, sind sehr viele Studenten und Ausländer zugezogen. Auch dort gehen die Mieten in die Höhe, sodass es immer schwieriger wird, leistbaren Wohnraum zu finden.» An diesem Murufer lag lange Zeit auch das Rotlichtviertel. Der Grisplatz etwa gilt immer noch als Hotspot.
Leistbarer Wohnraum
Derzeit gibt es rund 5000 Gemeindewohnbauten, die von der Stadt verwaltet werden. Außerdem noch 6500 sogenannte Übertragungswohnbauten, bei denen beispielsweise Genossenschaften mit Mitteln aus der Wohnbauförderung auf Gemeindegrund bauen. Nachteil für die Mieter_innen: Die Gemeinde hat bei Übertragungswohnbauten nur das Einweisungsrecht. «Bei selbstverwalteten Objekten kann man beispielsweise eine moderate Rückzahlungsvereinbarung treffen, wenn ein Mieter einmal in Geldnot ist, und ihn nicht gleich delogieren», sagt Kahr. Ihr Wunsch: Wie in den 60er-Jahren «müsste der soziale Wohnbau aus Steuermitteln finanziert werden. Das käme den Mietern zugute und würde nicht nur die Banken bedienen.» Bis auf die Grundstückskosten käme das Investment über die Mieten wieder zurück, sodass «keine Steuergelder verschwendet werden». Seit 2008 sind in der Stadt 1000 neue Gemeindewohnungen entstanden – allerdings gibt es «jährlich zwischen 1600 und 2000 positive Ansuchen für eine Gemeindewohnung. Gleichzeitig vergeben wir jährlich zwischen 550 und 700 Wohnungen.» Das Fazit: »Wir bräuchten jährlich für etwa 1000 Menschen leistbaren Wohnraum in Graz.»
Etwa 30 Prozent der Mieter_innen im sozialen Wohnbau in Graz sind Ausländer_innen – was der FPÖ naturgemäß ein Balken im Auge ist. Der blaue Klubobmann und Stadtparteiobmannstellvertreter Armin Sippe fährt in seiner Argumentation gegen «Elke Kahr und ihre Kommunisten» gleich zweigleisig: Erstens will die «soziale Heimatpartei» Grazer Familien in Grazer Gemeindewohnungen sehen, zweitens wünscht er sich eine anhaltende Ressortrochade: «Der soziale Wohnbau ist ja keine Erbpacht für Elke Kahr und die KPÖ. Wer einen kritischen Blick auf die Ressortverteilungen der letzten 15 Jahre wirft, wird erkennen, dass alle Stadtsenatsfraktionen stets mit wechselnden Ressortbereichen betraut wurden.» Die Frage nach notwendigem Know-how wird nicht gestellt: Es geht um die Position, nicht um Kompetenz.
Stadtbild neu
«Das ist ein Ressort, mit dem man sich sehr beliebt machen kann», kommentiert Burkhard Schelischansky, der in Graz das Architekturbüro Ostwind betreibt. «Das hat die FPÖ erkannt und hofft, sich in diesem Ressort profilieren zu können.» Schelischanskys Analyse: «Die Wohnproblematik wird sich verschärfen, vor allem durch das Preisniveau. Wohnraum ist die neue Währung, deshalb wird viel investiert.» Sein Architektenkollege Wolfgang Timmer sieht den Trend in Graz dorthin gehen, «dass Wohnungen keinen Gebrauchswert mehr haben, sondern einen Anlagenwert. Es ist gar nicht so wichtig, ob eine Wohnung funktioniert oder nicht, weil sie eigentlich nur ein Investitionsobjekt ist.» Aber: «Was jetzt gebaut wird, prägt die Stadt für die nächsten 100 Jahre», sagt Schelischansky. Dem sozialen Wohnbau komme daher eine wichtige Rolle zu.
Was die Vergabe von Gemeindewohnungen angeht, genießt Graz eine Art Sonderstatus unter den österreichischen Städten: Die Wartezeit auf eine Wohnung beträgt nur ein Jahr. Liegt ein Arbeitsverhältnis vor, hat man sofort Anspruch. In Notfällen versucht Kahr schnelle Lösungen zu finden. Für die FPÖ ist das ein unhaltbarer Zustand: «Bereits nach einem (!) Jahr Aufenthalt in Graz oder bereits unmittelbar (!) nach Begründung eines Arbeitsverhältnisses in Graz sind Zuzügler – ob In- oder Ausländer, ist unerheblich – berechtigt, sich auf eine Vormerkliste für eine Gemeindewohnung einzuschreiben», heißt es im Richtungspapier der «Fremd im eigenen Haus»-Kampagne. Und weiter: «Selbst im roten Wien muss man zumindest zwei Jahre gemeldet sein, um Anspruch auf eine Sozialwohnung zu haben, in Innsbruck sind es drei Jahre, in Wels sogar fünf.» Frei nach Donald Trump lautet die Devise «Grazer_innen first», wobei für die FPÖ auch Grundkenntnisse der deutschen Sprache eine Voraussetzung sind. Von der Idee her wirft dieses Konzept nicht nur ausländischen Zuzügler_innen Knüppel zwischen die Beine, sondern allen Menschen, die in Graz leben möchten. Integrationsfördernd ist eine solche Praxis sicherlich nicht.
Mit der Mieterin auf Augenhöhe
«In Graz ist es nicht einfach, eine vernünftige und leistbare Wohnung zu finden. Vor allem nicht, wenn man einen Migrationshintergrund hat», sagt Georg Kotzmuth. Einen großen Anteil an der aktuellen Wohnsituation haben auch die Hausverwaltungen. Dageko, eine Hausverwaltung, die den sozialökonomischen Gedanken in den Vordergrund stellen will, ist knapp zehn Minuten von Elke Kahrs Büro entfernt. «Wir verfolgen die Idee eines integrierenden, sozialökonomisch agierenden Unternehmens, das die Bedürfnisse der Mieter einbindet, keine Nationalitäten ausschließt und sich als Schnittstelle der menschlichen Art zwischen Mietern und Vermietern sieht», sagen die Besitzer_innen Dagmar und Georg Kotzmuth. «Bei uns gibt es den direkten Kontakt zum Mieter, den wir hegen und pflegen», erklärt Dagmar Kotzmuth. Zweimal pro Woche gibt es Sprechstunden, für die keine Voranmeldung nötig ist. «Am Ende des Tages bringt das für alle was. Der Mieter lebt gerne in seiner Wohnung und kann sich mit ihr identifizieren, weil er weiß, er hat bei uns ein offenes Ohr und wird unterstützt. Der Eigentümer hat Mieten, die auch gezahlt werden – was nicht ganz unwesentlich ist.» Georg Kotzmuth erinnert sich an eine der ersten «ernsthaften» Mieter_innenversammlungen seiner Karriere: «Die Leute waren es nicht gewohnt, von der Hausverwaltung nach ihren Wünschen gefragt zu werden. Im ersten Moment war es, als würden wir zwei verschiedene Sprachen sprechen. Aber wir haben in diesen Häusern damit einen Prozess in Gang gesetzt.» Es sei wichtig, den Mieter_innen auf Augenhöhe zu begegnen und Vertrauen aufzubauen. «Wir sind keine Wunderwuzzis, aber wir können bestimmte Probleme lösen.» Der praktische Effekt dieses Arbeitsprinzips: Es werden keine Makler_innenprovisionen verrechnet. Kommt eine Mieterin oder ein Mieter in finanzielle Schwierigkeiten, «versuchen wir eine vernünftige Lösung zu finden und nicht gleich zu delogieren». Zu Delogierungen kommt es bei Dageko zwar auch, aber sie halten sich in Grenzen.
Alle Nationalitäten willkommen
«Bei uns darf jeder wohnen, ungeachtet der Nationalität», erklärt Dagmar Kotzmuth. «Das klingt banal, ist es aber nicht, denn es gibt große Vorurteile innerhalb der Liegenschaftseigentümer und Hausverwaltungen, was Menschen anderer Herkunft anbelangt. Dass das nicht immer ganz reibungslos klappt, ist klar, aber durch unsere jahrelange Erfahrung kennen wir die Problematik und versuchen auch die Häuser dementsprechend zu besetzen. Wir schauen darauf, wer sich mit wem versteht. Wir haben eine Liegenschaft, in der sind 19 Nationen vertreten. Sie machen die Hälfte der Mieter aus, die andere Hälfte besteht aus Österreichern, von denen wiederum die Hälfte einen Migrationshintergrund hat – und es funktioniert. Egal wem du begegnest, begegne ihm offen, dann kannst du bei uns leben.» Insgesamt liegt der Anteil der Mieter_innen mit Migrationshintergrund auf den 10.000 Quadratmeter Wohnfläche, die Dageko in Graz verwaltet, bei etwa 60 Prozent. «Es ist eine Branche, in der jede Partei durchaus legitime Interessen hat», sagt Georg Kotzmuth. «Wir sehen schon einen gewissen Trend, dass es manchen Vermietern nicht egal ist, wie sie ihr Geld verdienen. Sozial schließt ökonomisch nicht aus – und umgekehrt.»