Wohngebiete bedrohen Industriezonentun & lassen

Über einen Paradigmenwechsel in Wien

Die Architektin Karoline Mayer geht mit einem Dokumentarfilm dem Wohnbau-Boom in Wien buchstäblich auf den Grund, nämlich bis zur Bodenspekulation. Reinhold Schachner erhielt Einblicke in ein Geschäftsmodell, dem die Flächenwidmungspolitik viel zu wenig entgegensetzt. Illustration: Much

Ursprünglich wollte Karoline Mayer einen Dokumentarfilm über Arbeit und Produktion in der Stadt drehen, doch im Zuge ihrer Recherchearbeit sei sie auf die Ursachen gestoßen, «warum die Produktion die Stadt verlässt». Die Architektin hinterfragt «ein Narrativ», nämlich jenes von der natürlichen Entwicklung, dass wir in einer postindustriellen Zeit, einer Dienstleistungsgesellschaft leben würden und Produktion anderswo stattfinde, wie sie im Begleittext zu ihrem Film Zwischen Simmering und Favoriten schreibt.
Einen der zentralen Sätze in dieser rund einstündigen Filmarbeit, die sie im Rahmen des Margarete-Schütte-Lihotzky-Stipendiums umsetzen konnte, spendet der Architekt und Architekturtheoretiker Andreas Rumpfhuber: «Aus der modernistischen Diskussion heraus musste Wohnen immer vor der Industrie geschützt werden, jetzt hat es sich umgedreht – man muss Industrie und Gewerbe vorm Wohnen schützen.» Quasi ein Paradigmenwechsel, denn Rumpfhuber vertritt keine solitäre Position, man kann es kaum glauben, eine Wiener Magistratsabteilung, nämlich die MA 18 (Stadtentwicklung und Stadtplanung) stößt mit noch deutlicheren Worten ins selbe Horn. Im von der MA 18 in Auftrag gegebenen und 2017 veröffentlichten Fachkonzept Produktive Stadt steht an oberster Stelle der Maßnahmen für industriell-gewerbliche Gebiete geschrieben: «Keine Umwidmung in andere Nutzungskategorien, wie z. B. Wohnen.»
Bloß sei das Fachkonzept nicht verbindlich, lautet der Hauptkritikpunkt von Karoline Mayer: «Es ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, der auch relativ rasch geschehen ist, wenn man sich andere Städte mit demselben Problem anschaut, aber schade finde ich dabei, es ist nur ein Vorschlag, keine Festlegung. Es wäre an der Zeit, andere Instrumente anzuwenden.»
Generell müsse ein Umdenken einsetzen, das sagen «kritische» Architekt_innen und Stadtplaner_innen im Film, und Karoline Mayer stimmt ihnen zu: «Es liegt an den steigenden Bodenpreisen, die so viel unmöglich machen. Der städtische Boden muss als Gemeingut betrachtet werden, wo gemeinsame Interessen vor Einzelinteressen stehen, sonst ist eine Stadt der Teilhabe nicht mehr möglich.»
Simmering liefert ein Anschauungsbeispiel dafür, wie es nicht ablaufen sollte, denn «im einst typischen Wiener Arbeiterbezirk ist seit den 90er Jahren der Anteil von Industrie und Gewerbe stetig zurückgegangen und durch monofunktionalen Wohnbau, der sich immer weiter von Leistbarkeit entfernt, und flächenintensiven Einzelhandel ersetzt worden», so die Filmemacherin.

640 Fußballfelder.

Blicken wir an dieser Stelle auch mit der Wirtschaftskammer Wien (WKW) zurück, die im Jahr 2016 eine Analyse der Umwidmungsflächen in Wien ab 2001 vorgenommen und Alarm geschlagen hat. Die WKW hielt damals fest, dass in diesem Untersuchungszeitraum von 15 Jahren «460 ha Betriebsflächen zugunsten des Wohnbaus dauerhaft verloren gegangen sind», eine Fläche, die laut WKW 640 Fußballfeldern entspreche. Auf Anfrage nach neueren Zahlen, genauer ab dem Einsetzen der Weltwirtschaftskrise 2008 den Bezirk Simmering betreffend, reagierte die WKW postwendend mit einem bei oberflächlicher Betrachtung sehr überraschenden Ergebnis: Im elften Bezirk sind in den letzten rund zehn Jahren lediglich 2,1 Prozent der Flächen für sogenannte gemischte Baugebiete und Industriegebiete verloren gegangen, und bei Redaktionsschluss ist auch kein Umwidmungsverfahren gelaufen. Also nur Alarmismus!?
Nein, denn man muss den Flächenwidmungsplan für Wien genau unter die Lupe nehmen. Karoline Mayer bringt ein Beispiel aus Simmering, wo in einem offiziellen Industriegebiet längst keine Industrie mehr zu finden ist. Wir ziehen daher für den Abschnitt Gadnergasse 2, 4, 6, 8, 10 und 12 die Lupe heraus. Wohnbau können wir zwar keinen entdecken, aber wir bekommen trotzdem einen Flächenwidmungsplan präsentiert, der mit der Realität nichts mehr zu tun hat: Im «Industriegebiet» stehen mittlerweile nur noch ein Fachmarktzentrum, ein Supermarkt und zwei Tankstellen.

Grundbuch vor Sparbuch.

Dass Wien mehr Wohnraum braucht, bezweifelt Karoline Mayer auch nicht, es werde aber an den Bedürfnissen vorbei gebaut. «Der jetzt geschaffene Wohnraum ist nur für sehr wenige leistbar, und es wird bei viel Leerstand bleiben, weil es sich um Anlagewohnungen, also Spekulationsobjekte handelt.» Bewegen wir uns daher auf eine Spekulationsblase zu? Karoline Mayer traut sich mit einem Ja zu antworten. 

Der Film wird im Rahmen des Festivals Simmering works
zwei Mal gezeigt:
28. September, 18.30 Uhr
Bezirksmuseum Simmering, 11., Enkplatz 2
11. Oktober, 20 Uhr
schloR, 11., Rappachgasse 26
www.simmeringworks.at