Wohnzimmer für Wohnungslosetun & lassen

Alternativort zum Praterstern

Überdacht, aber offen für alle. Täglich halten sich viele Menschen aus unterschiedlichen Gründen am Praterstern auf. Manche finden auch den Weg ins «Stern», ein Tageszentrum in der Nähe. Markus Schauta (Text) und Ruth Weismann (Fotos) waren auch dort.

Elf Uhr vormittags, Praterstern. Ein O-Wagen bimmelt, als er auf den überdachten Vorplatz des Bahnhofs einfährt. Vor dem Haupteingang halten ein paar Männer Bierdosen und Zigaretten, Passant_innen eilen durch die Glastür ins Innere des Gebäudes.

Für die einen ist der Praterstern ein Durchgangsort; zum Ein- oder Umsteigen in S-Bahn, U-Bahn und Straßenbahn. Andere sind gekommen, um zu bleiben. Für einige Stunden, oder den ganzen Tag; reden, trinken, dealen. Obdachlosen ist der Praterstern das Wohnzimmer, das sie nicht haben. Ein Ort, um Bekannte zu treffen, wenn sie nicht alleine sein wollen.

Medien betiteln das Areal als «Drogen-» und «Gewalt-Hotspot», von einem «sozialen Brennpunkt» ist die Rede. Entsprechend hoch ist das Aufgebot an Polizist_innen, die hier stündlich patrouillieren. Seit einem Jahr kommt sogar eine mobile Videoüberwachung zum Einsatz.

Auch Dominika Zelent und Benjamin Coster kommen mehrmals die Woche auf den Praterstern. Die beiden sind Sozialarbeiter_innen im Stern, einem Beratungszentrum für Wohnungslose, das vor zwei Jahren in der nahen Darwingasse eröffnet hat. In ihren neongrünen Westen gehen sie das Areal des Bahnhofs ab und laden Menschen in den alternativen Aufenthaltsort ein.

Die erste Station sind die Bänke beim Tegetthoff-Denkmal. Das halbe Dutzend Männer, das dort in der Sonne sitzt, ist den beiden gut bekannt. Patrick – um die 40, Schirmkappe und Zigarette – kam vor elf Jahren aus Berlin nach Wien. Einige Zeit arbeitete er bei der ÖMV. Aber irgendwann habe das nicht mehr gepasst. Jetzt schläft er in der Gruft oder in anderen Nachtquartieren. «Das Stern» hat er bereits besucht. «Ich finde es gut, dass man dort auch Alkohol trinken darf», sagt er.

Hausregeln

Für viele, die am Praterstern Zeit verbringen, spielt Alkohol eine große Rolle. «Bier und Wein sind daher im Stern erlaubt, aber keine harten Getränke», erklärt Coster. Wer sich nicht daran hält, bekommt ein einwöchiges Hausverbot.

Manche tun sich schwer, die Hausregeln im Stern einzuhalten, erzählen die Sozialarbeiter_innen. In der Unterführung, wo die Autos unter der S-Bahn-Trasse durchbrausen, haben Obdachlose ein Lager aus Schlafsäcken errichtet. Anna, die schon öfter Gast im Stern war, löffelt Reis aus einem Plastiksackerl. Ihre Kollegen ziehen die Schlafsäcke übers Gesicht, als sich Zelent und Coster nähern. «Fuck you!», ruft Maria den Sozialarbeiter_innen zu. Vom Stern will sie nichts mehr wissen. Sie hatte auch schon Hausverbot. Die Sozialarbeiter_innen wünschen ihr alles Gute und setzen ihren Rundgang fort.

Auf einem Wiesenstreifen an der Rückseite des Bahnhofs Praterstern machen Korn und Rotwein die Runde. Die Menschen, die hier beisammensitzen, kommen aus Ungarn, Polen, der Slowakei, Litauen und Griechenland. «Die Sprachbarriere ist oft ein großes Problem», so Coster. Da hilft es, dass viele seiner Kolleg_innen mehrsprachig sind. Zelent unterhält sich mit einem jungen Mann auf Slowakisch. Sein Unterarm ist entzündet. Er solle doch ins Stern kommen, schlägt sie ihm vor. Dort gibt es die Möglichkeit, Spritzen zu tauschen, und einmal die Woche behandelt eine Ärztin vom neunerhaus Patient_innen kostenlos. Auch für die Medikamente müssen die Obdachlosen nichts bezahlen.

Ein Mann um die 50 bietet einen Schluck aus seiner Zwei-Liter-Flasche Rotwein an. Aus Griechenland komme er, erzählt er. «Aber hier bin ich der Roman. Alle kennen mich als Roman.» Er schläft in Parks, in der S-Bahn oder im Bus. Neben ihm im Gras sitzt Alex aus Krakau. «Mein Bruder», nennt der Grieche ihn. Die beiden teilen sich Wein und Zigaretten.

Präsenz

Indem sie präsent sind und immer wieder an das Stern erinnern, wollen Zelent und Coster die Wohnungslosen vom Praterstern dazu bringen, die Tagesstätte zu besuchen. Manchmal brauche es länger, bis sich jemand entscheidet, vorbeizukommen, so Zelent. «Für die Menschen ist es oft eine große Überwindung, sich an eine Institution zu wenden.»

Finanziert wird die Einrichtung vom Fonds Soziales Wien, betreut vom Roten Kreuz. Drinnen herrscht Kaffeehaus-Atmosphäre. Theke, Tische und Stühle sind vom Café Rosa übernommen, das früher hier war. Es gibt einen Wuzzeltisch und einen Computer mit Internet-Zugang. Wein und Bier sind erlaubt. «Menschen, die am Praterstern Alkohol konsumieren, sollen das auch hier können», so Pint, denn schließlich will das Stern eine annehmbare Alternative zum Praterstern darstellen. In den allermeisten anderen Tageszentren ist Alkohol nämlich gänzlich verboten. In einem der beiden, durch eine Glastür getrennten Räume darf auch geraucht werden. Menschen, die hierher kommen, können ihre Wäsche waschen und das Stern als Postadresse angeben. Zusätzlich bietet die Einrichtung Freizeitaktivitäten an: Fußball- und Schachturniere, Freikarten für das Haus des Meeres, Grillen auf der Donauinsel – denn Teilnehmen am gesellschaftlichen Leben ist wichtig, so der Tenor der Sozialarbeiter_innen.

Florian, gescheiteltes Haar, lässig gekleidet, ist seit einem halb Jahr regelmäßig hier. Früher war der 49-Jährige in der Gruft, aber dort habe er keine Ansprechpartner_innen gefunden, sich nicht wohl gefühlt. «Hier treff‘ ich immer jemand, mit dem ich mich unterhalten kann», sagt er. «Wer will schon immer alleine sein?» Sauber sei es, und man werde wie ein Mensch behandelt, so Florian. Natürlich gebe es immer wieder Leute, die sich nicht an die Regeln halten; Schnaps mitbringen oder aggressiv sind. «Aber nach ein paar Wochen sind dann eh alle gut erzogen», sagt er mit Blick auf Martina Pint und lacht.

Anstieg der Gäste

«Als wir neu aufsperrten, hatten wir in den ersten Tagen gerade mal vier Klient_innen», sagt Pint. Es dauerte ein halbes Jahr, bis sich herumgesprochen hatte, dass es hier einen Aufenthaltsort für Wohnungslose gibt, bei dem die einzige Zugangsbeschränkung das Alter ist: ab 18 Jahre. Vergangenen Winter erreichte das Zentrum sogar öfter die feuerpolizeilich erlaubte Maximalanzahl von 55 Personen. Dann durfte niemand mehr reingelassen werden. «2016 haben wir 984 Klienten in Beratungsgesprächen betreut», so die Leiterin. Die größte Gruppe seien Österreicher_innen, an zweiter Stelle Ungar_innen, dann Slowak_innen. Von den Geflüchteten hätten sie hier nichts mitbekommen: «Syrer und Afghanen sind mehr am Haupt- und Westbahnhof anzutreffen, weniger am Praterstern.»

Um die Mittagszeit ist das Zentrum gut besucht. Der größere Teil der Gäste ist männlich, nur vereinzelt sieht man auch Frauen an den Tischen. In der Küche kann auf drei Kochplatten Selbstmitgebrachtes zubereitet werden. Geschirr, Töpfe, Salz und Pfeffer stellt das Stern zur Verfügung, und «zwei bis dreimal die Woche bringt die Wiener Tafel Lebensmittel vorbei», so Pint.

Wenn das Stern um 18 Uhr schließt, öffnen die Wiener Notschlafstätten ihre Tore. Dort können die Menschen duschen und die Nacht in einem Bett verbringen, allerdings nicht alle. Denn in vielen Nachtquartieren gibt es Beschränkungen, etwa bezüglich Staatsbürgerschaft. Wer einen Platz bekommt, kann bis zum nächsten Morgen bleiben. Dann hat auch das Stern wieder geöffnet.

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