Selbst bei der Anti-FIFA-WM wird mit Fußball Politik gemacht
Angesichts der FIFA-Fußball-WM wirft Johann Bogenreiter einen kritischen Blick auf den World Football Cup für Regionalauswahlen sowie Länder, die nicht Mitglied des Weltfußballverbandes FIFA sind.
Foto: © Gerald Zinnecker
Der britische Journalist und Autor Steve Menary trat für sein Buch Outcasts! The Lands That FIFA Forgot (Know The Score Books Limited, Studley 2007) eine Reise um den Globus an. Auf über 200 Seiten berichtet er von Fußballteams, die sich vom Weltverband übergangen fühlen, von Verbänden, in denen sich die «Ausgestoßenen» organisieren, und von Ölplattformen (!), die bei diesen Verbänden um Mitgliedschaft ansuchen. Dabei ließ sich Menary stets von der Frage leiten, nach welchen Kriterien die FIFA ihre «Fußballfamilie» erweitert, befand Claude Pascal in seiner Rezension in der Schweizer Wochenzeitung: Wenn die dänischen Färöer FIFA-Land sind, weshalb das dänische Grönland mit über 85 Prozent Inuit, also indigener Bevölkerung, nicht? Bezüglich der Frage der Unabhängigkeit der größten Insel der Welt fällt mir stets ein Klospruch aus meiner Studentenzeit ein: «Freiheit für Grönland – weg mit dem Packeis», was angesichts des Klimawandels gar nicht mehr so lustig ist. Trotz großer klimatischer Nachteile läuft man auch in Grönland mit großer Begeisterung dem runden Leder (das in Eis und Schnee wegen besserer Sichtbarkeit meist rot gefärbt ist) nach. Für den grönländischen Spieler Isak Høy bleibt das Match gegen Tibet in Kopenhagen im Sommer 2001 für immer unvergesslich, wie er dem GEO-Redakteur Christian Sywottek verriet: «Wir haben 4:1 gewonnen, und nach dem Abpfiff galt ich als der beste Mann des Spiels. Aber es war mehr. Die Tibeter spielten, obwohl ihnen die chinesische Regierung das verboten hatte. Sie kämpften an allen Fronten. Es war ein Freundschaftsspiel, das Geschichte geschrieben hat. Ich bin stolz, dass ich dabei war.»
Wenn ein Land international vollständig anerkannt sein muss, was unterscheidet dann FIFA-Palästina von Nicht-FIFA-Tibet? Und womit erklärt sie die Differenz zwischen den 192 von der UNO anerkannten Staaten und den 207 FIFA-Mitgliedsverbänden? Das Buch gibt aufschlussreiche Antworten, punktet mit einer Faktensammlung, und auch Humor spielt mit.
Die CONIFA übernahm das Zepter
Das NF Board, 2003 in Brüssel gegründet, bot auch einigen Regionen, wo es Abspaltungs- oder Autonomiebewegungen gibt, mit dem VIVA World Cup die Gelegenheit, sich einer breiteren Öffentlichkeit zu präsentieren. Das rief im Fall von Tibet China auf den Plan, um mit allen Mitteln zu verhindern, dass ein tibetisches Fußballteam zustandekommt. Der Film The Forbidden Team (Dänemark 2003, Regie: Arnold Krøigaard & Rasmus Dinesen, 60 min., OmeU) erzählt die außergewöhnliche Geschichte von einer Nationalmannschaft ohne Staat, die sich entgegen verschiedenster Widerstände auf den Weg macht, um in Kopenhagen das erste Spiel einer tibetischen Nationalmannschaft auszutragen.
Der VIVA World Cup wurde 2012 zum letzten Mal ausgetragen, mit der Autonomen Region Kurdistan als Sieger. 2013 kam es zu einer Neugründung: Die Confederation of Independent Football Associations (CONIFA) mit Sitz in Schweden übernahm als Fußballdachverband außerhalb der FIFA das Zepter. Schade allerdings, dass bei beiden Veranstaltern bis dato keine Frauenteams aufgelaufen sind. Wie die VIVA versteht sich die CONIFA als global agierende gemeinnützige Organisation, die Auswahlen von De-facto-Nationen (!), Minderheiten und sportlich isolierten Regionen unterstützen. Von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet, überholte die CONIFA die FIFA und kürte bereits am 9. Juni 2018 in London ihren neuen World-Football-Cup-Sieger: Kárpátalja (Karpatenukraine; eine historische Region in den Karpaten im äußersten Westen der heutigen Ukraine) gewann gegen Nord-Zypern im Elfmeterschießen. Beim ukrainischen Sportminister Ihor Zhdanov kam aber ob dieses Erfolges alles andere als Freude und Begeisterung auf. Er beschuldigte Spieler und Funktionäre der Karpatenukraine des «Sportseparatismus» und sah eine Notwendigkeit, diese, insbesondere in Bezug auf Beziehungen zu Terrorist_innen und separatistische Gruppen, zu verhören. Damit kam auch die CONIFA in die Kritik. Sie betonte aber ihre politisch neutrale Haltung (eine andere wäre wohl auch kontraproduktiv) und verteidigte die Mannschaft der Karpatenukraine. Das Thema von Minderheiten und indigenen Völkern, die sich ihre Selbstständigkeit bewahren und vom jeweiligen Nationalstaat (mehr) Autonomie oder gar Eigenstaatlichkeit fordern, ist zumindest latent stets präsent und wird solche Turniere stets begleiten. Sascha Duerkop, Generalsekretär der CONIFA, meinte dazu in einem Interview mit soka25east: «Fußball ist nicht nur ein Vehikel, um deine Liebe zu einer Nation auszudrücken, er ist viel mehr. Er ist der beliebteste Sport der Welt, und in vielen Fällen schafft er es, dass sich große Gruppen von Menschen mit etwas identifizieren. Das kann ein Klub sein, ein Land oder auch etwas dazwischen.»
Auf der Erfolgsseite kann der VIVA World Cup verbuchen, dass er für das FIFA-Mitglied Palästina den offiziellen Weg aufbereitet hat. Am 17. Mai 2010 trug diese Nationalmannschaft sein erstes vom Weltverband FIFA anerkanntes Länderspiel auf eigenem Boden aus, gegen Jordanien gelang ein 1:1. Die Partie auf dem Kunstrasen im Stadion Faisal Hussein in Al-Ram, einem Vorort von Jerusalem im Westjordanland, wurde auch als politisches Zeichen für eine politische Anerkennung Palästinas gesehen. Nach ihrem Tor jubelten die palästinensischen Kicker nur kurz, bevor sie sich einem Gebet hingaben.
Plattform für Padanien
Wirklich nachweinen braucht man dem VIVA World Cup aber nicht. Und das Nachfolgeprojekt CONIFA World Football Cup scheint auch nicht viel besser bestellt zu sein. Mit der Teilnahme Okzitaniens (südliche, historisch romanisch geprägte Region Frankreichs) und vor allem mit der Teilnahme von Padanien (das den VIVA World Cup dreimal gewann und mit Stichtag 1. Jänner 2018 an zweiter Stelle der CONIFA-Weltrangliste platziert ist) haben sich die Organisator_innen Eigentore geschossen. Padanien ist ein seit den 1990er-Jahren von der Partei Lega Nord verwendeter Propagandabegriff: Damit benennt die rechtspopulistische Partei die Regionen des nördlichen Italiens (inklusive Südtirol), die sich vom «römischen» Südteil abspalten sollen. Die Lega Nord versuchte auch den Gefangenenchor aus Giuseppe Verdis Oper Nabucco, als sogenannte Nationalhymne Padaniens für sich zu vereinnahmen. Die Argumente für die Gründung der Lega haben auch insofern einen schalen Nachgeschmack, zumal sie die wirtschaftlichen Gegensätze in Italien populistisch ausschlachten und meinen, der Reichtum des Nordens sei durch den Fleiß seiner Bevölkerung entstanden, von dem nun die «faulen Süditaliener» über Gebühr profitieren. Dabei unterschlagen sie, dass der Norden nicht nur Standortvorteile hat (bessere Anbindung an die Nachbarländer, fruchtbareres Land), sondern der Wohlstand auch durch billige Arbeitskräfte aus dem Süden geschaffen wurde. Dies erhält nun durch die Bildung der italienischen Regierung unter der Führung der Lega Nord und der ebenfalls (links-)populistischen und europaskeptischen Movimento 5 Stelle (Fünf-Sterne-Bewegung) eine besondere Aktualität. Die Zerrissenheit zwischen Realpolitik und rassistischem Populismus könnte auch in Form einer fiktiven Aufstellung einer padanischen Mannschaft für ganz Italien abgehandelt werden. Movimento 5 Stelle müsste als soziale Bewegung auch Spieler aus dem Süden hineinreklamieren, zumindest für die Reservebank. Wenn aber beispielsweise im Süden ein aus dem Meer gefischter Schwarzer, den ohnehin das übrige Europa nicht haben will, ein besonders guter Spieler und Goalgetter wäre, müsste wohl über einen Fixplatz für ihn gesprochen werden. Aber ein bisschen mehr Demut und Dankbarkeit als dieser Mario Balotelli sollte er aber schon an den Tag legen …