Dieser Tage beginnen die Abschlussprüfungen in Österreichs Schulen. Und mit ihnen Angst und Stress. Viele Wochen lang wurde über Corona-Anpassungsmaßnahmen diskutiert. Warum nicht darüber, die Matura abzuschaffen?
Text: Robert Sommer
Die Coronakrise, für viele die beste Pädagogin ihres bisherigen Lebens, vergönnt uns Einsichten, die uns hoffen lassen, dass es nach dem Abklingen der Seuche für die Eliten sehr viel schwieriger sein wird, die zivile Gesellschaft zu täuschen. Zum Beispiel über die Bedeutung der Matura. Die große Legitimationskrise für das Prinzip des abschließenden Examens tritt spätestens dann ein, wenn es zur Allgemeinerfahrung wird, dass der Maturanachweis keine Eintrittskarte mehr in den qualitätsvollen Arbeitsmarkt darstellt. Die pandemiebedingten Betriebssperrungen, partiell bis generell, haben global zu einer für alle spürbaren Entwertung der Leistungsbewertungen geführt, egal ob Hauptschulabschluss, Matura oder Uni-Abschluss. Das Zeugnis wird zum «Wisch». So lautete früher das Ressentiment sehr bildungsferner Schichten, das lange Zeit self-fulfilling prophecy war. Proletarischerseits war man der Bildung gegenüber so skeptisch, dass die Institutionen der Bildung scheinbar nachvollziehbar undurchlässig blieben: geschlossen für die Söhne und Töchter der Unterprivilegierten.
Noch wird die vielen Bildungsbürger_innen so heilige Reifeprüfung nicht «philosophisch», also das Problem radikal an der Wurzel packend, in Frage gestellt. Am Beginn der Pandemie hätte man aber noch Aufsehen erregt mit dem naiven Ratschlag, den jungen Leuten wenigstens den Maturastress zu ersparen.
Mit Angst, Scham und Disziplin.
Die Partei von Kurz und Faßmann reagierte, wie man es von einem personifizierten Museum vormoderner Erziehungskonzepte erwarten konnte. In diesem Verständnis spielen Disziplinierung und Angst eine große Rolle. Unterrichtsminister Faßmann (ÖVP) hat uns unfreiwillig vermittelt, dass das zentralste aller zentralen Unterrichtsfächer, die Mathematik, ein Feld darstellt, auf dem sich die Schüler_innen im Modus der Angst bewegen. Zu dieser Klarstellung rutschte Faßmann aus, während er bei einer Pressekonferenz mitteilte, die Zentralmatura werde in der Woche nach dem 18. Mai stattfinden, allerdings habe er verordnet, die Prüfungsreihenfolge zu drehen. Das «Angstfach Mathematik» stehe erst als dritte Prüfung auf dem Plan, anfangen werde die Zentralmatura mit dem «Leichtesten»: Deutsch. Man könnte sagen: Hier spricht ein Regierungspolitiker gelassen eine Wahrheit aus. Ein konfrontativerer Kommentar: Der oberste Schulpolitiker der Republik verkennt die Herausforderung einer konkreten Utopie, nämlich Angst, Scham und Minderwertigkeitskomplexe der Schüler_innen als Stimulatoren ihrer schulischen Qualifikationen zu verdrängen.
Ohne Wenn und Aber.
Wenn sich Österreich (in der Person Christian Brodas) einen Regierungspolitiker leisten konnte, der von der Abschaffung der Gefängnisse träumte, wird es doch wohl einen Unterrichtsminister vertragen, der Angst und Trauma als Basis des Unterrichtens zur Diskussion stellt. Von einer ramponierten Linken wird Faßmann in dieser Hinsicht wenig gefordert, und die Schüler_innen selber haben mit der Aufgabe, die Erfahrungen der Coronakrise in ihre hoffentlich bald wiedererstarkte Friday-for-Future-Bewegung einzubringen, zunächst genug zu tun.
Vor einem allzu schnell etablierten «Blauen Montag für eine entschulte Gesellschaft» hat Faßmann noch keine Bange. Das muss ihm das Statement der Bundeschulsprecherin Jennifer Uzodike – die dem politischen Lager des Bundeskanzlers und des Unterrichtsministers zugerechnet wird – vermittelt haben. In einer Aussendung ließ sie wissen, dass auch in diesem von der Epidemie verworfenen Schuljahr die Matura abzuhalten sei. «Wir wollen nicht der Jahrgang sein, dem nachher vorgehalten wird, die Matura geschenkt bekommen zu haben.»
Dabei liegen zumindest drei Varianten auf dem Tisch: überhaupt keine Matura, Matura ohne Prüfung oder Matura ohne Wenn und Aber (ein Ausdruck der türkisen Unerbittlichkeit im Angesicht der Krise). Die letztgenannte staatlich-autoritäre Variante trifft wie ein Theaterdonner auf die Realität der Coronaseuche: Die Arbeitslosigkeit ist dermaßen explodiert, dass ein gültiges Maturazeugnis so gut wie keine Eintrittskarte ins Reich der Arbeit mehr ist.
Demokratisiert uns die Matura?
Als erheiterndes Paradoxon, plötzlich sichtbar wie ein alle Augenzeug_innen verblüffender Regenbogen, kann angeführt werden, dass die Ehrenrettung der Matura von einem leider vielfach fremdgebliebenen Linksdenkenden kommt. Der in der Lüneburger Heide geborene und 1961 im amerikanischen Asyl gestorbene Karl Korsch, der neben Georg Lukács, Ernst Bloch, Antonio Gramsci und Rosa Luxemburg als bedeutendster Neuerer der marxistischen Theorie gilt, begründet den Sinn der Reifeprüfung freilich nicht mit der Flachheit der Bundeschulsprecherin, sondern als historisch Nachdenklicher. Sein entsprechender Essay, Das Examen als politisches Problem, gefunden in der Korsch-Gesamtausgabe der Europäischen Verlagsanstalt, betrachtet das Examen aus einer anderen Perspektive. Eine grundsätzlich uninteressierte und ablehnende Haltung gegenüber der Reifeprüfung sei ausgerechnet unter den Gebildeten zu finden. Die Matura sei aber ein einfaches Mittel zu einfachen Zwecken. Sie sei das demokratischste Mittel «zur Prüfung der individuellen Tauglichkeit eines Menschen für die Ausfüllung einer Stellung in Staat und Gesellschaft», demokratischer jedenfalls, als die beruflichen Positionen nach den Kriterien feudaler Erbrechtsprivilegien zu vergeben. Freilich, wer diese Dialektik der Matura begriffen hat, ist so reif, dass jede Benotung eine Farce wäre.
Schülerschule und Entschulung.
Die Landesschülervertreter_innen verweisen auf England, Schottland, Norwegen, die Niederlande und Frankreich. Hier haben die Regierungen beschlossen, heuer keine zentrale Prüfung zu organisieren. In den Banlieues der Metropolen dieser Länder (Norwegen ausgenommen) haben Jugendliche mit und ohne Abschlusszeugnis keine Chance.
Die Quarantänesituation hingegen böte die Chance zu lesen, was man nie las: den Schul-Diskurs des 68er-Geistes. Das wäre eine gute Voraussetzung, Diskussionen wie jene pro und contra Reifeprüfung 2020 in geistige Anstrengungen zu verwandeln, wie wir uns eine Gesellschaft (lang) nach Corona vorstellen können. Das vom Österreicher Ivan Illich angedachte Projekt der Entschulung der Gesellschaft, das Schluss macht mit der Bewertung von Kindern, ist auch linkerseits kaum registriert worden. Die italienische «Schülerschule» versuchte den Traum der Entschulung zu realisieren. Ihr Konzept ist immer noch voller Anregungen für künftige Kämpfe. Das Buch dazu erschien 1967. Der «Schularbeit» betitelte Brief eines Schülers oder einer Schülerin aus einer konventionellen Schule an eine konventionelle Lehrerin könnte auch auf die schriftliche Matura gemünzt sein, von der die Bundesschulsprecherin so viel hält. Die Lehrerin, darin gleicht sie in diesem Moment auch allen Kolleginnen an der blauen Donau, hat einen Vormittag lang die Aufgabe, darauf zu achten, dass die Schüler_innen nicht voneinander abschreiben oder heimlich Zettelchen austauschen. Dazu werden jeden Tag Millionen Lehrer_innen in aller Welt missbraucht. Der Brief lautet: «Während der Prüfungsarbeit gingen Sie zwischen den Bankreihen auf und ab. Sie sahen mich in Schwierigkeiten oder Fehler begehen und sagten nichts. Solche Arbeitsbedingungen habe ich auch zuhause. Kilometerweit im Umkreis niemand, an den ich mich wenden könnte. Kein Buch außer den Schulbüchern, kein Telefon. Nun aber sind wir in der sogenannten Schule. Ich bin eigens gekommen, von weit her. Meine Mutter ist nicht da, die versprochen hat, still zu sein, und mich dann doch hundertmal unterbricht. Das Kind meiner Schwester ist nicht da, das Hilfe für die Schulaufgaben braucht. Es ist Ruhe, gutes Licht, eine Schulbank ganz für mich. Und dort, gerade zwei Schritte vor mir, stehen Sie. Sie haben das Wissen. Sind bezahlt, mir zu helfen. Und stattdessen verlieren Sie Zeit damit, mich zu überwachen wie einen Dieb.»