Eine Stadt nach der anderen will den BettlerInnen zur Hölle werden
Da staunten die Blauen, als die Roten die Initiative ergriffen, das Wiener Sicherheitsgesetz so zu ändern, dass die Polizei nunmehr praktisch jede Form von Betteln verhindern kann.1889 als Kraft der Volksbildung und der Aufklärung, vor allem als Lobby der sozial Schwächsten gegründet, strandet die SP heute als Lobby für alle in multiple Ängste Getriebene: Angst vor «Fremden», vor «Normabweichlern», vor sichtbar Heruntergekommenen, vor den zeitgemäßen Aussätzigen, vor der allgemeinen Unsicherheit, vor unbeleuchteten Parks, vor der «explodierenden Ausländerkriminalität» etc. … Das Dilemma der SP: Diese Rolle ist längst von VP und FP besetzt. In der Politik der Gefühle ist die Rechte erfahrener.
Eine Politik der Gefühle ist leider resistent gegen eine simple Wahrheit: Armut kann man nicht durch polizeiliche Amtshandlungen bekämpfen. Die ärmsten Länder Europas sind heute die «postkommunistischen» Länder Osteuropas. Einer Ironie der Geographie zufolge liegt eine der reichsten Städte des Westens, nämlich Wien, greifbar nahe bei den Regionen des Ostens, die anstatt den Rückstand aufzuholen ökonomisch weiter «abgehängt» werden, aus Gründen, die hier nicht ausgeführt werden können. Die reiche Stadt kann nicht anders als saugen: einem Magneten gleich zieht sie jene Menschen an, die doppelt abgehängt sind: abgehängt vom Arbeitsmarkt einer abgehängten Ecke Europas. Die hierher Absorbierten landen auf dem Pfuscharbeiterstrich, wenn sie fit und kräftig sind, in der Sexarbeit oder vor allem, wenn sie körperlich und/oder psychisch dem geforderten Arbeitstempo nicht gewachsen sind auf den Gehsteigen des Bettelns.
Ist die Armuts-Einwanderung politisch steuerbar?
Das ökonomische Gefälle zwischen Wien und ihren Herkunftsorten ist so absurd groß, dass kein BH-Ostgrenzen-Einsatz und kein Bettelverbot den Zuzug der zuhause Perspektivlosen stoppen kann. Wir empfehlen Zuwanderungsgegnern, die mexikanische Lektion zu lernen. Mindestens eine halbe Million MexikanerInnen erreichen jedes Jahr «illegal» das Territorium der USA, obwohl die Grenze als bestbewachte gilt. Eine kleine Rechenaufgabe: Die Grenze zwischen Mexiko und den USA ist 1900 US-Meilen lang. Wenn es pro Meile und Tag zwei Personen gelingt, auf die andere Seite zu kommen, sind das 3800 «Illegale» mehr pro Tag, 1,3 Millionen mehr pro Jahr. Armuts-Massen-Migration ist nicht verhinderbar, außer durch eine Angleichung der Lebensstandards. Zudem kann das ökonomische System des Ziellandes nicht ohne die Illegalisierten leben, weil niemand sonst so effektiv gegen die gewerkschaftliche Lohnpolitik instrumentalisiert werden kann.
Könnten die Wienerinnen und Wiener wie durch ein Wunder ihre Xenophobie abschütteln, und auch ihre Disposition zum Hinuntertreten auf Schwächere, die ihnen als Sündenböcke vorgeführt werden, würde ihnen ein inneres Lichtlein aufgehen. Eine kollektive neue Erkenntnis, wie «Es ist doch schön, in einer Metropole zu leben, die andere magnetisch anzieht», würde eine Art Tauwetter einleiten, und die Schmelz-Strecke zwischen Viktor-Adler-Markt und dem Keplerplatz würde genügen, um den Eisblock Strache in eine trübe Lacke zu verwandeln. Aber solche Wunder gibt es nicht, deshalb ist die Mühsal der Aufklärung zu wählen, um Nüchternheit und Gelassenheit in die von der Politik der Gefühle aufgewühlte Bettel-Debatte zu bringen.
Ein Mindeststundenlohn von 70 Cent kein Grund, auszuwandern?
Die größten Armutsbekämpfungsprojekte der Geschichte waren immer die Migrationsbewegungen: weil das politische System der Herkunftsländer nicht zur Armutsbekämpfung taugt. Die Verarmung des südlichen Burgenlands wurde durch die Massenemigration «gelöst»: In den Jahren vor und nach der vorletzten Jahrhundertwende (1900) machte sich in vielen südburgenländischen Gemeinden ein Fünftel seiner BewohnerInnen auf den Weg über den großen Teich. Die Fabriken der boomenden US-Wirtschaft rauften sich um die Neuankömmlinge, deshalb glich die Situation der BurgenländerInnen nicht denen der verarmten OsteuropäerInnen, denen in Wien der Arbeitsmarkt verschlossen ist. Aber die Ausgangssituation war ähnlich: in der Heimat «no future».
Eine Hilfe beim Darstellen des West-Ost-Gefälles ist der Vergleich der gesetzlichen Mindestlöhne. Spitzenreiter sind Luxemburg (ca. 1600 Euro Monatslohn), Großbritannien (ca. 1400 Euro), Belgien, Frankreich und Niederlande (rund 1300 Euro). In Spanien und Griechenland liegt er unter 700 Euro. Österreich ist eines der wenigen EU-Länder ohne gesetzlichen Mindestlohn, jedoch haben sich die «Sozialpartner» geeinigt, sich für die Kollektivverträge an einer Untergrenze von 1000 Euro zu orientieren. Tschechien und die Slowakei haben Mindestlöhne unter 300 Euro, und in Rumänien und Bulgarien liegt die Grenze bei 100 Euro. Ein Vergleich der gesetzlichen Minimalstundenlöhne: Bulgarien 71 Cent, Luxemburg 9,73 Euro.
Die Zahlen spiegeln übrigens nicht die reale Lage wieder: Man müsste recherchieren, wie viel Prozent der Unselbständigen nicht einmal den gesetzlichen Mindestlohn erhalten. In vielen Roma-Siedlungen der Slowakei, Rumäniens und Bulgariens können die Menschen von einem solchen Mindestlohn ohnehin nur träumen. Sie waren schon vor der Krise arbeitslos. Dass sie sich zusammentun, um nach Wien zu fahren, wo nach einem Monat vielleicht der doppelte Mindestlohn im Plastikbecher liegt, ist nicht weniger logisch als der massive Grenzübertritt zum dritten Gebiss: Der Ansturm der Wiener Bevölkerung auf die Ordinationen der Soproner oder Mosonmagyarovarer Zahnärzte als ein weiteres Phänomen der Physik des Gefälles.
Auf wessen Kosten stieg Österreichs Durchschnittslebensstandard?
Um neben den nackten ökonomischen Zusammenhängen nun auch die Moral ins Spiel zu bringen: ÖsterreicherInnen sollten nicht allzu überheblich über die Armut der osteuropäischen Länder urteilen. Österreichische Konzerne profitieren von den Dumpinglöhnen im Osten, indem sie etwa in dorthin verschobenen Produktionsstätten selbstverständlich nicht österreichische, sondern rumänische oder bulgarische Löhne zahlen. Die Sklavenlöhne, eine Attraktivität für das Kapital aus dem Westen, sind der Hauptgrund dafür, dass über 20 Prozent des österreichischen Bruttosozialprodukts in den ehemaligen kommunistischen Ländern investiert wurden (Quelle: Industriellenvereinigung, Mai 2009). Aus einer Bilanz der Österreichischen Nationalbank 2006 (am Höhepunkt des Goldrausches): «In einigen osteuropäischen Ländern haben österreichische Firmen sogar zweistellige Renditen erzielt. Spitzenreiter bei Investitionen ist Österreich derzeit in Bosnien, Kroatien, Bulgarien und Slowenien. In Rumänien liegt Österreich als Investor auf Platz zwei, in der Slowakei, Serbien, Ungarn, Tschechien und der Ukraine auf Platz 3. Dieses positive Ergebnis zeigt, wie wichtig die Osteuropa-Entwicklung für den Lebensstandard der ÖsterreicherInnen ist.»
Wenn A gewinnt, muss B verlieren, auch das gebietet die Physik des Kapitalismus. B wie Bettler: Auf den Straßen Wiens holt sich B organisiert oder nicht organisiert, gewerbsmäßig oder nicht gewerbsmäßig, einen Bruchteil vom Lebensstandardzugewinn der A-Seite zurück. Auch darin können nachdenkliche Menschen eine gewisse Logik entdecken. Die Politik der Bettlervertreibung hat nicht zuletzt den Zweck, diese Logik zu verdecken.