ZeitabschnitteDichter Innenteil

Foto: Claudia Christine Magler

Manche schauen mich an, lächeln und weichen seitlich aus. Meist ältere Paare. Jüngere stehen im Wald, auf der Wiese, gehen auf und ab, das Handy am Ohr. Es wird telefoniert, damit man Stimmen hören und sprechen kann. Die Hunde werden an die Leine genommen, damit der Kontakt mit Fremden vermieden wird. Einige grüßen im Vorbeigehen, wir sprechen ein paar Worte. Wir sind uns näher, weil wir selten und wertvoll geworden sind. Weil uns etwas verbindet, das uns zähmt. Das unsere Bedürfnisse zurückstellt, unseren Willen durchbricht.

 

Der Terminkalender ist leer, alles ist durchgestrichen. Ich atme auf. Doch die Freiheit nach dem Aufgeben fühlt sich leer an. Aus der Leere wird Fülle, sagen die Weisen, man muss nur warten. Ich stehe auf dem Balkon, sehe Knospen an kleinen Zweigen. Der Nachbar, ein Zahnarzt, der früher selten zu sehen war, geht durch den Garten, er stützt sich auf das kürzere, linke Bein, hebt die Hüfte rechts und zieht das andere nach. Er hatte Kinderlähmung. Er bleibt stehen, sieht in die Ferne, über die niedrigen Häuser zu den dunkelnden Hügeln, setzt sich auf die Kinderschaukel, wippt, steigt wieder ab, hebt den Teddybären von der Wiese auf, zieht ihn an einem Bein nach, schleift ihn, dessen Körper herabhängt, bis zur Glastür und lässt ihn liegen.

Draußen dröhnt der Wind

Draußen dröhnt der Wind, die hochaufgerichteten Äste beugen sich. Mit der Gefahr von außen wächst die innere Triebkraft. Ich werde über neunzig, sagt ein alter Mann, ich lasse mich nicht anstecken, das schafft der Virus nicht. Täglich geht er durch den Wald und weicht Herankommenden seitlich ins Gebüsch aus, wo er mit dem Rücken zu den Spaziergängern wartet, bis die Gefahr vorbei ist. Er lässt sich Nahrungsmittel bringen und greift sie mit Handschuhen an. Er nimmt den Staubsauger und bügelt die Wäsche selbst. Wenn ich wieder auf Reisen gehe, sagt er, das hole ich nach.

 

Die Triebkraft will sich nach außen richten und ihr Ziel finden. Gibt es dieses nicht, zerfällt sie oder verflacht, zieht sich zurück, bis sie nicht mehr ist. Das Morgen, der Andere, das Tun und das Er-leben, sind ihr Treibstoff. Manche richten ihre Triebkraft nach oben zum Himmel aus, für die wird sie feiner und zu einem Gewebe, ein unsichtbarer Faden, der sie leitet. Sie vermeinen, die Triebkraft könne sich verändern, vom niedrigen des Essens und der Lust in Geistvolleres, das mit Licht durchstrahlt sei. Die Triebkraft der Nächstenliebe wäre eine, jene, zu lieben. Oder das Bedürfnis nach Liebe. Das Bedürfnis ist eine starke Triebkraft, die gestillt werden will, dann hört sie auf, für kurze Zeit.

 

Meine Begierde nach Kontakt hört nicht auf. Ich liege in meinem Kabinett mit grippalem Infekt. Die Angst vor den Stimmen der Nachbarn. Vor dem Kinderschreien. Als ob sie durch meinen Körper ziehen. Argwöhnisch lauscht mein Ohr, das verstopfte. Hitzeschübe, ich ziehe mich aus, dann Kälte, ich liege mit Socken im Bett. Meine Nase rinnt. Schreiben als fließen, treiben, kreisen. Der Bleistift hat das Heft in der Hand. Ich lächele. Ein Kalauer. Die Worte gerade noch hingeschrieben. Fremd wie die Sätze, wie von keiner Sprache.

Fortfahren … weiterziehen

Das Tun ist wie ein Auto, das fahren muss, um Sinn zu stiften. Fortfahren, denke ich, weiterziehen. Doch alles zieht an mir vorbei, es wird schleierhaft vor den Augen. Ich stoße mit dem Kopf an die Küchenkästen, weil ich nichts sehe. Corona-Sätze rinnen durch mein Handy, rinnen aus dem Fernseher in meinen Kopf, bis es surrt, und ich nicht mehr schlafen kann. Ich sehe unklar und putze die Brille. Ich verstehe den Text in meinem Buch nicht. Unklar antworte ich auf Fragen nach meinen Plänen und wie ich den Alltag gestalte, um die Gefahr zu verringern. Die Gefahr, die uns verbindet. Geld, denke ich, eine falsche Sicherheit, auf die man sich setzt, wie auf einen Stuhl, der einem gehört, ein Schirm, den man aufspannt gegen den Regen, ein Beziehungsmensch, an den man denkt, um sich die Angst fernzuhalten.

 

Ich entwerfe ein Panorama, in dem man freudige Taten setzen könnte. Die Zimmer werden eingeteilt und begangen nach Tätigkeiten und erhöht um Empfindungen. Blauer Bügeltisch mit frischer Wäsche und ätherischen Gerüchen, Hometrainer vor dem TV-Marathon, Sprossen, Smoothies und ausgereifte Menüs in der Küche, die sich wieder dem Coquere, Kochen verbindet, der Computertisch mit Blick durch das Fenster zu einem Baum, der Schreibtisch wird Schreib-Tisch, das Bett zur Leselandschaft, der Lehn-stuhl, an den man sich lehnt. Sogar die Schuhe werden wieder poliert. So kann man das Denken beibehalten und erfrischt sich. Sollte ich Schmuck tragen und ein weißes Hemd beim Frühstück? Mich schminken?

 

Selbstverständliche Äußerungen werden wie ein Virus betrachtet. Was habe ich gesagt, wie habe ich gehandelt, was ausgelöst, lautet die Anklage. Die undurchdringlichen Grenzen zwischen ich und du sollen nicht mehr verstärkt werden. Wie du magst, ist meine neue Wendung. Ich möchte die Flucht ins Eigene, Abgezirkelte aufbrechen, damit Energie fließen kann. Beim Spazierengehen erschrecke ich über die aufgestellten Gitter entlang des Wiesenhangs vor dem Spital. Besetzt, denke ich, ein angeeigneter Raum. Zornig schaue ich hindurch zu den Brennesseln, die ich sammeln wollte. Wegen der Besuchsverbote, sagt eine Passantin. Stimmen werden laut in mir. Wir setzen die Sicherheit durch. Wir schaffen die Voraussetzung für dreißig Meter Stabilität. Im Notfall mit der Armee.

Reduktion

Das kalte Blau über den hohen, glatten Stämmen der Buchen. Ein halbes weißes Wölkchen. Reduktion, denke ich. Den anderen nicht erreichen können. Die Nähe, das war auch früher nicht einfach. Die Fluten der SMS, die der inneren Sicherheit dienten. Die nicht Hand noch Fuß besaßen. Nur die unzähligen Worte. Unter meinem Fuß der sich wölbende Waldboden mit den Krallen der standfesten Stämme. Schlägst du Wurzeln, höre ich meine Mutter sagen, wenn ich nicht folgen wollte als Kind. Im Gehen werden die Stämme dunkler und vermehren sich. Ich bin in die Tiefe des Waldes vorgedrungen. Kupfer und rostbraun glitzernde, sich einrollende und zerstäubende Blätter der Sträucher. Waldschmuck. Sie zerbröseln wie Brot, das man zwischen den Fingern reibt. Am Weg Holzscheite aufgeschichtet im Holzstoß, hell und glatt, duftend vom Schnitt, die Späne liegen verstreut, kleiner werdend, zerfasernd zu Holzstaub. Die Erinnerung an Mutter mit Rucksack, vor mir gehend, beidseitig glänzende Bärlauchfelder mit weißen Blüten, eine Helle, die zwischen den Stämmen die Strahlen der Verheißung durchsendete. Der Augenblick der Erinnerung, das Damalige zerfallen, Staub geworden. Nichts bleibt.

 

Das Wissen, nicht mehr unbegrenzt Zeit zu haben. Das Vertrauen, dass aus der Tiefe etwas aufsteigen wird. Dass Zeit keine Rolle spielt. Das Bild einer Vertrauten scheint auf in mir, die gestorben ist. Wie soll das weitergehen, denke ich, und im Weitergehen fühle ich etwas aufsteigen aus dem Grün des Waldes, etwas Vermischtes und Unabgeschlossenes von früher, und freue mich auf diese Botschaften, die aus dem Nichts entstehen, und nicht an die infizierte Welt gebunden sind. Von einem Tag zum nächsten, sage ich.

 

Eine Dreierpartie, wie aus einem Fernsehkrimi, wenn die Handlung der Beamten eine fröhliche Rast bietet, bevor die Spur wieder aufgenommen wird. Jeder hat ein Papiersackerl vom Brotgeschäft, aus dem belegte Weckerl hervorgezogen werden. Die Nahrung wird weggehalten von der Uniform und kräftig hineingebissen. Der eine lehnt am offenen Auto, der andere hat sein Bein nach hinten abgewinkelt an den Baum gestützt, der dritte das grüne Hosenbein auf die Bank gestellt, seine braune Brille und die breiten Lippen glänzen in der Sonne. «Danke» sagt er, als ich «Mahlzeit» und «guten Tag» wünsche in der Lichtung auf der Anhöhe. Zwei weitere Polizisten kommen mir entgegen in grüner Uniform und lockerem Gürtel mit Pistolenhalfter, sie schlendern den Waldweg hinauf, während ein Polizeiauto mit blauen Streifen die Straße in Serpentinen emporfährt. Ein sonniger Palmsonntag. Alle sind zufrieden. Wenn nicht der Abstand wäre. Und fünfhundert Euro Strafe bei Nichteinhaltung.

Die Schönheit der Welt ist hier

Löwenzahn in Dotterfarbe übersät die sattgrüne Wiese. Ein alter Mann geht durch die Allee der blühenden Bäume die Wiese entlang, weiße und rosarote Blüten von Vogelbeere, Apfel, Kirsche über seinem Kopf, der Bogen aus Weidenästen an der Seite. Er geht den gefurchten Weg bis zum Waldrand und durch das Tor des Frühlings zurück. Am Ende quert er das Wiesenfeld hinüber zu dem Weg, der parallel zur Baumallee hinaufgeht. Es ist ein Rechteck, in dem er sich bewegt. Er geht Stunden denselben Weg und ist glücklich. Die Schönheit der Welt ist hier, sagt er. Ich muss nicht darüber hinausgehen. Ich schaue jede Blume an.

 

Das Licht erweckt, etwas ist besonders heute. Ich öffne die Balkontür. Weiße Blütenkelche liegen auf dem grünemaillierten Tisch. Jede Blüte hat ein rosa gemaltes Zentrum. Der Wind lässt die Blätter sich berühren, die Berührung weitergeben, komm zu uns, Orkan in allen Blättern, von Baum zu Baum. Gelbe Forsythien hängen wie Lampions vom Strauch. Ich lächle sie an. In mir erstehen die Gesichter von Frauen, Bekannten, Angefreundeten, sie lächeln. Ich neige mich ihnen zu. Ob wir zum Anfang zurückkehren können? Eine alte Hand streicht über den Rücken der anderen Hand. Ein Vertrauen teilt sich dem Körper mit, das weit zurückreicht.

 

 

 

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