Zeitschleife, ein Leben langtun & lassen

Hineinleuchten ins Dunkel der Langzeithaft

StudieLangzeit.jpgLaut Bundesministerium für Justiz befinden sich in Österreich durchschnittlich rund 7800 Personen in Haft. Fern der Statistiken bedeutet dies: gut 7800 Menschen aus unterschiedlichsten sozialen Schichten, auf unterschiedlichstem Bildungsniveau, mit unterschiedlichsten Interessen jedoch mit immerhin zwei Gemeinsamkeiten. Erstens: das Begehen einer Straftat. Zweitens: das Leben in einer der 28 Justizanstalten Österreichs. Aber: Sind das denn schon genügend Kriterien, um mehrere Jahre zusammen in einer Zwangsgemeinschaft leben zu können? Und: Wie hält man das eigentlich aus? Fragen, die sich auch Yvonne Czermak stellte.

Eine Freiheitsstrafe soll gemäß Paragraph 20 des Strafvollzugsgesetzes einem jeden Verurteilten unter anderem zu einer solchen Lebenseinstellung verhelfen, die den Bedürfnissen des Gemeinschaftslebens angepasst ist. Der Weg zu dieser Lebenseinstellung ist kein leichter, zeichnet sich schließlich der Alltag in einer Justizanstalt aus durch strikte Vorschriften, wenig Privatsphäre und einen weitgehend starren Zeitplan. Was geht also in einem Menschen vor, der nach einer Straftat dazu verurteilt worden ist, die folgenden Jahrzehnte seiner eigenen Biographie in einer Zwangsgemeinschaft zu verbringen an einem Ort, an dem er täglich mit seinen physischen, aber auch psychischen Grenzen konfrontiert wird?

Ich hab mir gedacht, es muss ein Lebensraum sein, den man überleben kann, sagt Psychologin Yvonne Czermak. Die junge Frau traf sich in den österreichischen Justizanstalten Stein, Garsten, Graz-Karlau und Wien-Favoriten zu Gruppengesprächen mit Inhaftierten. Das Ergebnis ihrer Recherchen: Einblicke in Strategien von Langzeithäftlingen, festgehalten auf über 300 Seiten in ihrer Diplomarbeit Rattler, Giftler, Geisterbahnen von der Zwangsgemeinschaft in der Zeitschleife. Bewältigungsstrategien langstrafiger Häftlinge. Bei einem Milchkaffee erzählte sie von einigen ihrer Beobachtungen und von den Erfahrungen, die sie auf dem Weg dahin machte.

Du bist gependelt zwischen draußen und Justizanstalten, zwischen zwei Welten die zumindest für Laien unterschiedlicher nicht sein könnten: auf der einen Seite eine relative Grenzenlosigkeit, auf der anderen Seite gesellschaftliche Isolation und ständige Überwachung. Wie wurdest du in dieses System aufgenommen?

Die Aufnahme war in den Anstalten sehr unterschiedlich. Ich hab festgestellt, dass es einen großen Unterschied macht, ob man schon Leute kennt, über die man Leute kennen lernen kann, die einen betreuen könnten. Ich habe meine Reise durch die Anstalten in der Justizanstalt Favoriten begonnen, wo ich den Anstaltsleiter bereits durch ein Seminar an der Uni kannte. Er hat mir auch geholfen, mein Thema zu spezifizieren. Dort war es natürlich sehr, sehr leicht einzutreten, weil ich eine konkrete Ansprechpartnerin vermittelt bekommen hab, die mir auch die Gruppen vorgestellt hat. In den größeren Anstalten war es natürlich schwieriger. Dort hatte das Personal nicht die Zeit, mich besonders zu betreuen. Das heißt, ich musste eine Möglichkeit finden, die Insassen anzusprechen und kennen zu lernen, also mittels Briefen.

Wie hast du dich während deiner Recherchen gefühlt?

Den Insassen gegenüber hatte ich sehr, sehr stark das Gefühl, zur Botschafterin zu werden. Sie wollten mir all ihre Wünsche mitgeben, wie ‚Sagen sie der Ministerin dieses und jenes von mir‘. Ich habe es als sehr spannend empfunden. Es war von Szene zu Szene ganz unterschiedlich. Es war bedrückend, im Besucherraum zu warten, mit irgendwelchen uralten Zeitschriften. Doch es war nicht bedrückend, in der Gruppe zu sitzen. Zum Teil war ich auch erleichtert, weil ich die Leute dann doch unter anderem ’so frei‘ erlebt habe, dass sie neben Justizwachebeamten alles einfach wirklich sehr offen sagen konnten und durften. Zum Teil dann wieder bedrückend, wenn die Leute so vorgeführt wurden, also hereingebracht wurden, zu mir gebracht wurden. Ich war sehr offen. Ich hab mir gedacht, es muss ein Lebensraum sein, den man überleben kann.

Hast du den Eindruck, dass dein Geschlecht und dein Alter bei deiner Arbeit eine Rolle spielten?

Ja. Es hat nur eine Gruppe konkret angesprochen, dass sie mir als Frau natürlich viel bereitwilliger entgegentreten. Die anderen haben das nicht thematisiert, ich bin halt sehr höflich und respektvoll behandelt worden. Bei einer Gruppe von betagten Insassen, die sehr lange in Haft waren und am Ende ihrer Haftstrafe standen, hat man mir schon das Gefühl gegeben, ich sei halt so eine junge Frau, die keine Ahnung hat von irgendwas.

Nach welchen Kriterien haben sich die Insassen zu Gruppen zusammengeschlossen? Nach Modellen wie draußen? Oder gab es da Unterschiede?

Das war ein ganz wichtiges Thema, dass die Leute sich von der unerwünschten Gemeinschaft dadurch abgrenzen konnten, dass sie interessensmäßig Gruppen bildeten. Zum Beispiel eine kleine Gruppe von zwei Leuten in Stein, die ich auch als die Philosophen bezeichnet habe, weil die sich wirklich fortbilden wollten [] und sich halt von Leuten, die gerade einmal lesen konnten, extrem abgegrenzt haben.

Schufen sie sich auf diese Weise ein Stück Privatsphäre?

Absolut. Nicht nur Freiräume, sondern auch den Lebensmittelpunkt. Man muss sich vorstellen, dass man der Alltagsstruktur sehr stark ausgeliefert ist. Die Menschen sind in ihrem Alltag extrem strikt eingeteilt, und um das ein bisschen in den Hintergrund treten zu lassen, haben sich manche eben auch das Leben selber strukturiert, indem sie gesagt haben: ‚Ich besuche einen Kurs, das heißt, ich bin jeden Montag in diesem Kurs, und ich lebe jetzt von Montag zu Montag. Ich lebe nicht von Essen zu Essen, denn das Essen ist eh immer das Gleiche.‘ Um sich weniger an Anstaltsstrukturen festhalten zu müssen, haben sie ihre eigenen Highlights kreiert.

Mit welchen weiteren Strategien haben die Häftlinge versucht, sich mit ihrer Situation zu arrangieren?

Zum einen durch Interessensgruppen, zum anderen durch Fortbildung. Manche haben auch ihren Lebensmittelpunkt draußen verankert. Für die war es natürlich besonders schwierig, weil sie beim Kontakt nach draußen wieder extrem durch die strukturellen Bedürfnisse behindert wurden. Manche haben den Versuch gemacht, sich besonders über ihre eigene Position auf dem Laufenden zu halten. Das heißt, sie wussten immer ganz genau, was die Justizministerin im letzten Interview gesagt hatte, wussten ganz genau, an welchen Gesetzen gerade gearbeitet wurde, wussten ganz genau über ihre Rechte und Pflichten bescheid. Andere gabs wieder, die sich in der Anstalt eine Position geschaffen haben, indem sie zum Beispiel Hausarbeiter wurden. Die haben eine Vertrauensposition, sowohl gegenüber den Insassen als auch gegenüber dem Personal. Sie haben dann auch ein bisschen mehr Freiheiten, die dürfen zum Beispiel auf geschlossenen Stöcken ihre Zellentüre den ganzen Tag offen haben.

Welchen Eindruck haben die Recherchen bei dir hinterlassen?

Ich habe ganz besondere Gruppen erlebt. Leute, die motiviert und bemüht waren, aus dieser Zeit dort drinnen etwas zu machen. Das heißt, ich war zum Teil positiv überrascht, wie autonom diese Menschen trotzdem sein können.

Von außen hat man ja eher den Eindruck, die starren Strukturen eines Gefängnisalltags würden die Handlungsautonomie der Insassen einschränken. Ja, das stimmt auch. Sie ist extrem eingeschränkt, aber die Leute suchen und finden immer noch den Handlungsspielraum, auch wenn es eigentlich schon gar keinen mehr gibt. Ich habe empfunden, dass sie sehr kompetente Menschen ihrer eigenen Lebenslagen sind, zum Großteil. Ich hatte eigentlich keine Gruppe, die mir nur die ganze Zeit erzählt hätte, was ihnen alles unmöglich gemacht würde.

Mit Yvonne Czermak sprach Birgit Müller

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