Augustin 263 - 11/2009
Anmerkungen zum Winkelzugprinzip
«Wie auch die Lüge uns schmähend umkreist » Vor 1000 ZuhörerInnen im besetzten Audimax der Wiener Uni lässt das Stimmgewitter Augustin in der Nacht vom 6. zum 7. November eine Vergangenheit lebendig werden, in der die Arbeiterbewegung noch ähnlich kämpferisch und systemkritisch war wie heute die Bewegung des Unistreiks. Die zitierte Strophe ist aus dem Lied «Die Arbeiter von Wien».
Der Einsatz der Lüge im politischen Konkurrenzkampf und im «Dialog» mit den BürgerInnen ist etwas, was die Menschen von den PolitikerInnen allgemein erwarten. Politik ohne Winkelzüge ist nicht mehr vorstellbar. Dass PolitikerInnen schwindeln, gilt im Volk als selbstverständlich. Die Uni-BesetzerInnen fallen auf, weil sie das Selbstverständliche nicht mehr als selbstverständlich hinnehmen. Wenn sie lesen, 86 Prozent der ÖsterreicherInnen seien für eine Beschränkung des Zugangs zu den Universitäten, lassen sie sich vom Leumund des Erfinders dieser Quote nicht täuschen. Das reputierliche Institut für Markt- und Sozialanalysen Ges. m. b. h., bekannt unter IMAS, hat mit diesem «Umfragen»-Ergebnis wie bestellt die Position beider Koalitionspartner unterstützt, der von den Studierenden geforderte freie Zugang zur Hochschulbildung sei nicht möglich. In der Branche der Markt- und Meinungsforschung kommt man nicht mit den Methoden der Objektivität in den Status der Bonität, sondern mit Manipulationen zum Zwecke des Verhinderns unerwünschter Ergebnisse.
Diesen Schluss zogen die BesetzerInnen, als sie den Wortlaut der IMAS-Telefonumfrage recherchiert hatten: In nahezu allen europäischen Ländern gibt es Aufnahmeprüfungen und Zugangsbeschränkungen an den Universitäten. Daher kommt es jedes Jahr in Österreich zu einem Ansturm ausländischer Studenten, die in ihrer Heimat nicht zum Studium zugelassen würden. Halten Sie es unter diesen Umständen für sinnvoll, bestimmte Zugangsbeschränkungen bzw. Aufnahmeprüfungen einzuführen, oder sind Sie gegen solche Beschränkungen? Die Fragestellung ist obszön unneutral und suggeriert nebenbei, dass die Universitäten wegen der deutschen StudentInnen überfüllt seien. Als ob die Überbelegung verschwinden würde, wenn sieben Prozent nicht größer ist der Anteil der Studis aus Deutschland in die Heimat abgeschoben werden.
Wir nehmen uns in diesem Blatt beide Mythen vor: Christian Felber hat uns seine Audimax-Rede zur Verfügung gestellt, in der er den Mythos der Unfinanzierbarkeit des unbeschränkten Zugangs zum Hochschulstudium zerpflückte (Seite 12); Jörg Wimalasena befasst sich mit dem Anti-Piefke-Ressentiment (Seite 9), das revitalisiert wird, um einen Keil in die Bewegung zu treiben. Dario Summer stellt das mediale Aushängeschild der AudimaxistInnen vor: «Morgen», die «U-Bahnzeitung der Protestbewegung» (Seite 14) als Versuch, «positiven Boulevard» zu gestalten. Um den Unistreik-Schwerpunkt in dieser Ausgabe komplett zu machen, haben wir engagierte UnibesetzerInnen gebeten, Augustin-LeserInnen nachvollziehbar zu machen, inwieweit das Laboratorium der Selbstverwaltung im Audimax eine nicht zu ersetzende Schule der Basisdemokratie geworden ist (Seite 10).