Augustin 272 - 04/2010
Städtewettbewerb: Bettlerheimschicken
«Die Anwesenheit auf dem Bürgersteig sitzender Menschen, die in Not geraten sind und an das Mitleid und an die Hilfsbereitschaft von Passanten appellieren, müsse von der Gemeinschaft jedenfalls in Zonen des öffentlichen Straßenverkehrs als eine Erscheinungsform des Zusammenlebens hingenommen werden und könne folglich nicht generell als ein sozial abträglicher und damit polizeiwidriger Zustand gewertet werden.» Legte man Ursula Stenzel, der konservativen Bezirksvorsteherin des 1. Wiener Gemeindebezirks, diese Zeilen ohne Hinweis auf den Verfasser vor, würde sie auf «linksgrüne Gutmenschenpropaganda» tippen. Es handelt sich jedoch um ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichthofs Baden-Württemberg, bekanntlich weder eine Einrichtung der BettelLobbyWien noch eine Tarnorganisation der Roten Armee Fraktion.Die ÖVP-Politikerin konnte die «Club 2»-Diskussion vom 24. März über die Verschärfung des Wiener Bettelverbots dominieren, obwohl ihre Sammlung von xenophoben Stereotypen Punkt für Punkt hätte entzaubert werden können. Wie zur Schonung von SPÖ und ÖVP, die zwei Tage später im Wiener Rathaus eine Landessicherheitsgesetzesnovelle durchpeitschen werden, die de facto die Exekutierung des generellen Bettelverbots erlaubt, orientierten sich die Sendungsverantwortlichen auf eine bloß moralisierende Debatte. Weder eine Vertreterin oder ein Vertreter der BettelLobbyWien noch eine andere sachkompetente Person wurden eingeladen, die mittels Fakten und Analysen zu einer Rationalisierung der Debatte hätte beitragen können.
So gab es niemanden, der oder die nachfragte, woher Stenzel ihre kruden Theorien über «ganze Dörfer, die von ihren Bossen zum Betteln, Stehlen etc. geschickt werden» beziehe. Niemand, der die einfache Wahrheit aussprach, dass das vorgeschlagene Verbot des «gewerbsmäßigen Bettelns» (gesetzt den Fall, dass tatsächlich so ein «Boss» in Erscheinung tritt) nur die Opfer bestrafen würde, nicht die Täter. Zur Bestrafung der Täter gäbs ja seit undenklichen Zeiten das Instrument des Strafgesetzbuchs mit den bewährten Paragraphen gegen Erpressung oder Menschenhandel.
Und es gab niemanden, der über die Unumgänglichkeit von «Armutstourismus» in Richtung Österreich sprach, solange die soziale und ökonomischen Spaltung zwischen westlichen und den postkommunistischen Staaten sich verschärft; und niemanden, der aussprach, wie sehr die österreichische Wirtschaft vom Ost-Lohnniveau profitiert. Schließlich gab es niemanden, der die Verschärfung des Bettelverbots in den Zusammenhang eines wachsenden Antiziganismus in vielen europäischen Ländern stellte.
Wenn Schneckerl Prohaska in einer Matchpause nacherzählt, was alle ZuschauerInnen sowieso gesehen haben, wird das vom ORF «Analyse» genannt. Wenn ein Leit-Medium aus seinem Haupt-Talk-Format analytisches Denken verbannt, fühlen wir uns herausgefordert: Auf den Seiten 6 bis 9 finden Sie Texte und Fotos zum thematischen Schwerpunkt dieser Ausgabe: Die Städte scheinen sich auf einen Wettbewerb eingelassen zu haben, welche am schnellsten zur Hölle für die Bettlerinnen und Bettler wird.