Augustin 275 - 05/2010
Platz nehmen! Platznahmen benennen!
Ich hatte in Kempten zu tun. Was genau, wird spätestens auf Seite 30 klar. Zunächst möchte ich eine Kollateralwahrnehmung loswerden, eine Erfahrung abseits des Themas, das mich in dieser südwestbayrischen Provinzstadt interessierte. Kempten, so stellte sich heraus, ist keine Stenzel Town im Allgäu. Denn während meines Aufenthalts, wie um den Wiener Reporter zu beschämen, beschloss der so genannte Ordnungsausschuss im Kemptener Rathaus, dass Straßenmusik weiterhin genehmigungs- und gebührenfrei bleiben müsse. Der Ausschuss, dominiert von CSU-StadträtInnen, setzte sich ziemlich einhellig gegen den CSU-Bürgermeister durch, dessen Argument, es gäbe laufend Beschwerden, als übertrieben durchschaut wurde. Die Beschwerden kamen immer von ein und derselben Person. «Die Hauptstadt des Allgäus muss voller Leben sein», widersprach ein CSU-Politiker seinem Parteifreund und Stadtoberhaupt.
Ausdrücklich wird diese Rolle der Lebensqualitätsbewahrung auch Armutsflüchtlingen aus Osteuropa zugestanden. Wer schätze nicht bei seinem Stadtbummel eine kleine Pause mit Live-Romamusik? Ein ausgekochter Wiener, eine erfahrene Wienerin denkt, nicht richtig verstanden zu haben, wenn es im Bildtext des führenden Regionalmediums «Allgäuer Zeitung» unter dem Foto der drei slowakischen RomamusikerInnen heißt: «Gitarre, Tambourin und Gesang bot gestern diese Gruppe in der Kemptener Fußgängezone.» Eine nonchalante, selbstverständliche Text-Bild-Harmonie, die im aufgeregten Wien obsolet geworden ist: Massenzeitungen würden das Foto in ein Dokument organisierter Kriminalität der Ost-Bettlerbanden verwandeln, während es ihre Konkurrenten von der «Qualitäts»-Fraktion im besten Fall zu einem defensiven «Leben und leben lassen»-Appell nutzen würden.
Fünf Seiten dieser Ausgabe sind der traurigen Wiener Realität der sukzessiven Beschneidung des Rechts auf freie Benutzbarkeit des öffentlichen Raumes gewidmet. In der «Fanpost» (Seite 3) reagieren LeserInnen auf die Anti-Bettler-Kampagne, an der das komplette politische Spektrum zwischen Strache und Häupl in seltener Harmonie beteiligt ist. Wenn sechs bullenhafte Polizisten vor einem Supermarkt eine weinende, hilflose Bettlerin beamtshandeln, ist Zivilcourage gefragt, betont eine Leserbriefschreiberin. Ab Seite 6 versucht ein Wiener Straßenmusiker mit nomadischer Europa-Erfahrung einen Städtevergleich, was die Straßenmusikregelungen betrifft. Und ab Seite 8 wird über das unglaubliche Defacto-Berufsverbot eines Wiener Profi-Jongleurs informiert, der am Stephansplatz d i e Touristenattraktion schlechthin war.
Die Frage, wer den öffentlichen Raum benutzen darf, führt zur weiteren Frage, wer über die Straßen- und Plätzenamen bestimmen darf. Eine Augustin-Mitarbeiterin machte sich die Arbeit, alle Neubenennungen öffentlicher Räume der Gemeinderatsausschüsse von Oktober 2008 bis Dezember 2009 zu untersuchen, unter anderem nach Gender-Kriterien (Seite 38). Ein Resultat vorweggenommen: Den Frauen gibt man höchstens die Wege, wenn überhaupt. Die Männer kriegen in der Regel die Straßen und Plätze.