Augustin 286 - 11/2010
Pöchhacklerregelung abschaffen
Zeig mir die großen Bahnhöfe, und ich sage dir, ob die Städte noch frei genug sind, um sich um die Menschen zu sorgen, oder ob sie schon ganz im Griff des großen Geldes sind. Die Stuttgarter Bevölkerung scheint begriffen zu haben, dass der Wechsel der Bahnhofskultur gewissermaßen ein Indikator ist. Der Mönchengladbacher Wirtschaftswissenschafter Tim Engartner schrieb: «Auf dem Weg der Bundes- zur Börsenbahn büßen Bahnhöfe ihren Charakter als öffentliche Räume und Kulturdenkmäler ein, wandeln sich die ursprünglich für jedermann zugänglichen `Eingangstore zu den Städten` durch ihre Neugestaltung zu von privaten Sicherheitsdiensten überwachten Geschäftswelten mit Gleisanschluss.» In dem Maße, wie sich die Privatsheriffs in den wie Flughäfen gestalteten Bahnhöfen ausbreiteten, verschwanden die «Gestrandeten» aus den Hallen, weil es nun schon als Verbrechen gilt, wenn sie sich auf den ohnehin fast verschwundenen Warteraumbänken zur Ruhe legen.Der Augustin verkohlt die Verkünder des Märchens, der neue zum Shoppingcenter degradierte Westbahnhof und der künftige Wiener Zentralbahnhof verbesserten das Angebot des öffentlichen Verkehrs (Seite 12). Er macht am Beispiel des Waldviertels deutlich, wie viel Schaden die Orientierung des ÖBB-Managements und der Politik auf Großprojekte und auf den Abbau der Regionalbahnverbindungen anrichtet (Seite 13). Und er interviewt AktivistInnen des schwäbischen BürgerInnen-Aufstands gegen das Bahnhofsprojekt «Stuttgart-21», eine Bewegung, die auch in Wien legitim wäre (Seite 10); leider hat sogar der Augustin den Zeitpunkt verschlafen, an dem ein Alarmschrei nötig gewesen wäre, um die Fehlinvestitionen zu verhindern.
Die «Pöchhacklerregelung» ist sicherlich nur deshalb nicht zum Unwort des Jahres 2010 geworden, weil wir dieses Wort eben erst erfunden haben. Es steht für eine österreichische Besonderheit: für die Verquickung von öffentlicher Bahn und «Baumafia», repräsentiert durch Horst Pöchhacker. Der Begriff «Mafia», das muss angemerkt werden, beinhaltet hier keinen konkreten Vorwurf organisierter Kriminalität, sondern wird im Sinne populistischer Überspitzungen gebraucht: analog den Termini «Bettlermafia» oder «Ostmafia», die die ZeitungskollegInnen vom anderen Ufer so strapazieren.
In Stuttgart ist es weithin begriffen worden: Das umstrittene Bauvorhaben wird als verkehrspolitisches Projekt vorgegaukelt, ist jedoch ein Bau- und Immobilienprojekt. Durch die Verlegung des Bahnhofs in den Untergrund werden große innerstädtische Flächen frei, die sich aufgrund der zentralen Lage in Stuttgart ausgezeichnet vermarkten lassen sollten. Es geht hier nicht um die zehnminütige Zeitersparnis für die Bahnverbindung Paris – Bratislava.
«Svabos» nennen die Ex-Jugos uns Deutschsprachige. Schwaben. Im Licht der schwäbischen Übungen des zivilen Ungehorsams verliert dieser Titel seine pejorativen Aspekte. Wenn LobbyControlling ein schwäbischer Brauch wird (eine Initiative LobbyControl www.lobbycontrol.de erforscht die Hintergründe von «Stuttgart-21»), wollen wir gerne Schwabos sein.