Augustin 294 - 03/2011
Japan ist (k)ein Thema
Verschwörungstheoretisch war es eine reife Leistung, als nach dem Erdbeben in Haiti die Legende aufkam, die Katastrophe sei durch künstliche Beben, ferngesteuert aus den USA, ausgelöst worden. Nämlich zum Zweck, danach «Aufbauhilfe» zu leisten, die erfahrungsgemäß Profite für die westlichen «Helfer» bringe. Der vermeintlich reale Kern dieser Haiti-Legende ist das Phänomen, dass Katastrophen vor allem die Menschen der armen Zonen der Erde ins Unglück reißen.
Als eine der allzeit sprudelnden Wissensquellen des Internets www.gutefrage.net die Frage beantworten musste, warum die reichen Länder von wirklich schrecklichen Katastrophen verschont bleiben, fielen die Auskunftgeber in die Falle der AKW-Lobby, die das Gefährdungspotential in den entwickelten, AKW-reichen Staaten naturgemäß kleinreden muss: «Die Erdbebengebiete sind von Natur aus arm, da diese Gegenden in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen von Erdbeben erschüttert werden () In den Armenvierteln fallen die Wellblechbaracken bei etwas stärkeren Beben zusammen wie Streichhölzer.»Das japanische Desaster macht solche Urteile zur Makulatur. Es stimmt bloß, dass bei gleich schweren Beben die Menschenleben in armen Ländern weniger geschützt sind als in den reichen. So wurden bei den Erdbeben auf Haiti über 200.000 Menschen getötet, während das wesentlich stärkere Beben in Chile einige Wochen später weniger als 1000 Menschenleben forderte. Die verlautbarten Todesopferzahlen in Japan, so schrecklich sie sind, bestätigen diese Tendenz.
Aber der Sturz ist tiefer, wenn sich das für Katastrophen zuständige Schicksal ein reiches Land auswählt. Wo keine Toyotas produziert werden, werden keine Toyota-Arbeiter arbeitslos, und wenn niemand in ein Kernkraftwerk investiert hat, kann es zu keinem Gau kommen. Das japanische Beispiel zeigt, wie schnell Gesellschaften verarmen können, die sich gestern noch als Oasen des Wohlstandes feierten. Der Autobauer Toyota schloss temporär alle inländischen Werke, was einem Minus von 40.000 Autos täglich entspricht. Mindestens sechs japanische Häfen sind schwer beschädigt, einige dürften noch Jahre außer Betrieb bleiben. Wie sich die auch ohne Gau nötigen Stromrationierungen auf die Prekarisierung der Arbeitenden auswirken, ist nicht absehbar.
Was sagt uns das? Erstens, dass wir schneller verarmen können, als wir uns vorstellen können. Zweitens, dass der Grad der Demokratisierung einer Gesellschaft das Gefährdungsrisiko bestimmt. Demokratische Verhältnisse in Japan vorausgesetzt, hätte dieses Land nicht mit Atomkraftwerken vollgefüllt werden können.
Als diese Ausgabe geplant wurde, hätte man die Bilder, die dann aus Japan kamen, als Hollywood-Fiktionen bestaunt. Unser thematischer Schwerpunkt, das Themenpaar «Realität der Migration» und «Empowerment der MigrantInnen» kreist um «Probleme», die angesichts der Zerstörung eines Stücks von Japan vernachlässigbar erscheinen. Die neue Radikalität, mit der informelle «MigrantInnen»-SprecherInnen wie Ljubomir Brati Werte wie Gleichheit und Gerechtigkeit revitalisieren, wird keinen Einfluss auf die Realität der Geologie haben. Doch unter gerechteren Verhältnissen sind die kommenden Katastrophen erträglicher.