Augustin 318 - 04/2012
Aufruf zum Diebstahl?
«Damit werde ich wohl aufhören müssen», schreibt Leser Peter Planyavsky, und er meint damit: aufhören, den Augustin zu kaufen und zu lesen. Der Anlass: «Sie rufen in der Nr. 316 unter dem Titel Freie Fahrt offenbar allen Ernstes zum organisierten und systematischen Schwarzfahren auf öffentlichen Verkehrsmitteln auf.Soll die Jahresnetzkarte für unsereinen also wieder teurer werden? Denn dass es wieder teurer wird für die Deppen, die brav zahlen, wenn mehr Leute schwarzfahren, das dürfte doch wohl keines weiteren mathematischen Beweises bedürfen. Dass der öffentliche Verkehr für eine kleine Gruppe von Mitmenschen schwer leistbar ist, ist mir sehr bewusst. Aber durch Ihren Aufruf zum (pardon) Diebstahl fühle ich mich ein wenig verhöhnt. Bevor Sie weitere derartige Beiträge veröffentlichen, empfehle ich ein bisschen Umschau in anderen europäischen Städten, z. B. in Amsterdam, wo die einfache Fahrt 2,70 kostet.»
Unseres erbosten Lesers Empfehlung, sich in anderen europäischen Städten umzuschauen, führt uns auch in die Hauptstadt Estlands, deren politische Führung in diesen Tagen alle jene «realpolitisch Denkenden» eines Besseren belehrt, die die allgemeine freie Fahrt mit Öffis für eine romantische Utopie halten. In Tallinn endete eine einwöchige Bürger_innenbefragung zu ebendiesem Thema mit einer Zustimmungsrate von über 75 Prozent, was Bürgermeister Edgar Savisaar erfreut als Beweis dafür ansah, wie innovativ seine Städter_innen denken. Ab 1. Jänner 2013 sollen die Einwohner Tallinns ihre Busse, Trolleys und Straßenbahnen gratis nutzen können. Schönheitsfehler: Tourist_innen müssen weiterhin pro Fahrt 1,60 Euro berappen.
Kritiker_innen werfen dem Stadtoberhaupt vor, der Öffi-Nulltarif sei nichts als ein Schlager für die kommende Lokalwahl. Das mag wohl stimmen; unabhängig von Savisaars Motivationen lehrt uns die Stadt Tallinn, dass die «Unfinanzierbarkeit» einer «freien Fahrt für alle» (traditionelle Augustin-Forderung) ein Märchen ist. Reiche Städte wie Wien würden sich noch leichter tun mit der Finanzierung des Nulltarifs als relativ arme Städte wie Tallinn. Von Verkehrsexpert_innen wissen wir, dass das finanzielle Wohlergehen der kommunalen oder öffentlichen Verkehrsbetriebe in den europäischen Städten nicht davon abhängt, ob der Fahrschein etwas kostet oder nicht. Denn die Systeme des öffentlichen Verkehrs werden nur zu etwa zehn Prozent (exakte Zahlen sind von den Verantwortlichen nicht zu kriegen) von den Ticket-Einnahmen finanziert. Die Verkehrsbetriebe leben von den Geldern aus dem kommunalen Haushalt und von der Kommerzialisierung der Passagen und Stationsbereiche (wie kommt es übrigens, dass die U-Bahnp-Passagen immer mehr in auch für die Wiener Linien lukrativen Shopping-Centers verwandelt werden und dass die Fahrpreise dennoch immer höher werden?).
Wir ziehen daraus zwei Schlüsse. Erstens: Der Nulltarif ist bloß eine Frage des politischen Willens und der Prioritäten. Eine umstrittene U-Bahn-Verlängerung kostet das Zigfache dessen, was die Einführung des Nulltarifs kosten würde. Zweitens: Wenn Menschen in sozialer Not in organisierter Form oder individuell schwarzfahren, holen sie sich nur einen Teil der Kommerzialisierungsgewinne zurück. Eine F13-Aktion der Augustin-Verkäufer_innen am 13. April (siehe Seite 16) wird in diesem Sinne aufklärend wirken mit dem Charme, der Chuzpe und der Ironie, die dem Happening-Charakter dieses Aktionstages entsprechen.