Augustin 333 - 12/2012

Richter im Elfenbeinturm

Man kann der Wiener Sozialdemokratie den Vorwurf nicht ersparen, dass sie mit der Gewichtung, die sie der Verfolgung des «Bettelunwesens» (dieser Begriff sollte eigentlich seit 1945 geächtet sein) gibt, an die Bettler_innenverfolgung in der nationalsozialistischen Zeit anknüpft.Die Behauptung einer ungebrochenen Kontinuität wäre übertrieben, aber die Bettelverbote, damals wie heute, stießen und stoßen auf gesellschaftliche Zustimmung, weil sie von der Schnittstelle mehrerer Alltags- bzw. Stammtischideologien aus gerechtfertigt werden können: dem Arbeits- und Leistungsfetischismus, demgegenüber das Betteln als unproduktiver Müßiggang und ergo Sozialschmarotzertum erscheint; dem tief verwurzelten Antiziganismus der Gesellschaft; den («arischen», hätte man früher verdeutlicht) Ressentiments gegenüber den Menschen aus dem Balkanraum und Osteuropa usw.

In der «Bettlerfrage» (ebenfalls eine Begrifflichkeit aus Hitlers Zeiten) überschneiden sich mehrere Formen des kollektiven Wahnsinns, und der Gesamtwahnsinn infiziert das sonst so kritische Milieu der Stadt. Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, die eigentlich gegen ihre Entmündigung aufschreien müssten, nehmen unwidersprochen hin, dass ihre individuelle Großzügigkeit gegenüber bettelnden Personen in die Nähe einer kriminellen Handlung gerückt wird. Dazu Gerald Tatzgern, Leiter der Zentralstelle zur Bekämpfung der «Schlepperkriminalität» im Innenministerium: «Bettelei ist eine Form der Ausbeutung der Arbeitskraft durch Menschenhandel. Geben Sie nichts, weil Sie nie sicher sein können, ob das wirklich den bettelnden Personen zugute kommt» (Die Presse, 29.10.2011).

Diesem meinungsbildenden Polizisten wird kaum widersprochen, obwohl seiner eben zitierten Neudefinition des Bettelns keinerlei rationale Denkleistung zugrunde liegt. Es wird langsam unbehaglich, wie sehr hohe Polizeifunktionäre die Begriffe unserer Sprache umdeuten dürfen und wie sehr eine Handvoll Richterinnen und Richter des Verfassungsgerichtshofes, die unberührt von Überlebensproblemen blieben, die Definitionsgewalt in Fragen des Grundgesetzes und der Menschenrechte beansprucht (und missbraucht?).

Die Verfassungsrichter_innen haben kürzlich den Antrag der Bettlerin Martina S. niedergeschmettert. Sie erkannten von ihrem Himmel herab, dass die Antragsstellerin «nicht unmittelbar betroffen» vom Wiener Bettelverbot sei und deshalb gar nicht das Recht habe, die Verfassungswidrigkeit des Landessicherheitsgesetzes anzuklagen. Denn «aus Not» dürfe sie ja betteln solange sie das «still» und nicht «gewerbsmäßig» tue. Wer mit offenen Augen durch Wien geht, weiß aber, dass in den Haupteinkaufstraßen dort, wo Betteln lukrativ wäre de facto jedes Betteln von der Polizei als gewerbsmäßig definiert wird.

Zur «Bettlerfrage» wurde in den «Antizyklen» der Armenbekämpfungspolitik schon reifer gedacht. Der Sozialwissenschaftler J. J. Vogt stellte 1854 (!) fest: «Wir fragen, welche Grenze man Mensch gegen Mensch zwischen den Lustreisen vornehmer Personen und dem Umherziehen armseliger Bettler ziehen sollte. Wo ist der Jurist, der angesichts göttlicher Gleichheitsprinzipien hier irgend ein Strafrecht zu begründen vermag? Die freie Bewegung ohne die Verletzung der Rechte Dritter ist eine Konsequenz des Rechts auf den Genuss der Selbständigkeit, folglich unantastbar, und man wollte sie dennoch als strafbar erklären?»

In den 1970er Jahren, 120 Jahre später, wurde in Österreich Betteln als Strafbestand aus den Gesetzbüchern des Bundes gestrichen (es war die Zeit v o r der Weichenstellung Richtung Neoliberalismus, die mit Namen wie Kreisky, Broda, Dallinger verbunden ist). Heute erleben wir die massive und erfolgreiche Unterhöhlung dieser Entkriminalisierung durch Landesgesetze und Verfassungsrichter_innen, die das decken. Wohin soll das führen!?

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