Augustin 336 - 02/2013
Fadesse als Regierungsform
Man könnte meinen, dass es dem wettbewerbsorientierten Menschen wichtig ist, als erster einen guten Einfall zu haben und ihn umzusetzen, um in den Geschichtsbüchern nachfolgender Generationen als Erfinder_in, Reformer_in, gar Revolutionär_in verbucht zu werden, als politische Führung, unter deren Ägide ein Land, eine Stadt, oder sei es nur ein Bezirk aufgeblüht wäre. Nicht unter dem Stichwort politischer Einfalt. Anders die Landes- und Bundesregierung in Wien: Mitten in der Hauptstadt finden die wohl speziellsten Proteste des jungen Jahrhunderts statt, und die Leute, deren Sternstunde gekommen sein könnte, scheinen eingeschlafen zu sein.
In Berlin wird seit Oktober ein Protestcamp auf einem prominenten Platz mitten im Bezirk Kreuzberg abgehalten. Der Bezirksbürgermeister Franz Schulz (Bündnis 90/Die Grünen) sprach eine Duldung des Camps aus: So lange es um politische Anliegen gehe, gebe es keinen Grund, nicht zu campieren. Überdies passe ein Protestcamp zu Stadtbild und Selbstverständnis von Berlin. Damit bekommt er a) Wähler_innenstimmen, erspart sich b) hysterische Polizeieinsätze als Lösung anzubieten und c) hat er gegen den Willen seiner Kolleg_innen in der SPD/CDU-Stadtregierung sympathische Stadtpolitik gemacht.
Der Bürgermeister von Wien hingegen kann dem Versuch, sich politisch auszudrücken, die Verhältnisse nicht nur zu bejammern, sondern öffentlich Änderungen vorzuschlagen, nichts abgewinnen: In seinem ersten Statement zu den Flüchtlingsprotesten, das nach eineinhalb Monaten im Jänner 2013 hörbar wurde (und aus dem hörbar wurde, dass er die Vorschläge der Protestierenden nicht kannte), verzog Häupl das Gesicht darüber, dass sein braves, gemütliches Wien belästigt wird und nicht die anderen Bundesländer, die es doch viel mehr verdient hätten! «Überall dort, wo die Unterbringungsquote nicht erfüllt wird, dort geht man nicht hin. Dort passiert nichts. Dort protestiert man nicht. In dem Bundesland, in der Stadt, wo man zu 140 Prozent diese Quote erfüllt, dort macht man eine Demonstration, dort besetzt man einen Park, dort besetzt man eine Kirche».
Anders als Schulz hat Häupl in seiner föderalistischen Kränkung nicht durchschauen können, dass es ihm und seiner Landespartei ein paar Punkte bringen würde, die Traiskirchener Aktivist_innen willkommen zu heißen und ihnen Unterstützung zuzusichern und damit zu beweisen, dass es in Wien allen «zu 140 Prozent» gut gehen könnte.
Menschen haben immer schon für ihre Rechte gekämpft. Mehr noch, sie mussten. Jede Generation hat ihre Kämpfe und jeder Kampf seine Gegner_innen. Es ist ein leichtes, sich an einem beliebigen Punkt der Geschichte umzuschauen, um zu erkennen, dass nur dort gesellschaftlicher Fortschritt erzielt wurde, wo die, die ihn am nötigsten hatten, aufgestanden sind. Kein Grund, beleidigt zu sein also, weil sich eine Gruppe gefunden hat, die ihre Rechte per Protest in einer Wiener Kirche erkämpfen möchte. Eher würde es sich empfehlen, den Ball aufzunehmen und solidarische Politik zu machen so könnte man sich quasi gratis einen Platz in den Geschichtsbüchern sichern.