Augustin 340 - 03/2013
Was wir müssen
Ist die Utopie eines menschenfreundlicheren Bewusstseins des Individuums naiv und voluntaristisch? Oder ist es wünschbar, dass «Strukturen» nicht alles sind, dass gesellschaftliche Bedingungen nicht immer als Sachzwang, sondern manchmal auch als überwindbar durchgehen?
Auf der unstrukturierten Suche nach den unsympathischsten Berufsfeldern – jenen also, von denen am leichtesten vorstellbar ist, es gäbe sie nicht, und der Schaden, der aus ihrer Inexistenz entstehen könnte, wird schlicht nicht greifbar – bin ich auf einer kurzen Reise zurück nach Wien wieder einmal an die Buhperson dieser Sparte geraten: nein, nicht die Hedgefondsmanagerin, sondern der Zivilpolizist.
Wie weithin als wenig überraschend vorausgesetzt werden darf, hat die ÖBB die Tagesstrecke Venedig-Villach «eingespart», der Bus fährt an einem abgelegenen Ort hinter einem Wulst von Autobahnabfahrten los (mehr zum Seitenhieb gegen die Sparmaßnahmen der ÖBB findet sich auf den Seiten 8-9) und kommt am Villacher Bahnhof an. Eine knappe Dreiviertelstunde vor Villach bleiben wir unvermutet auf einem Parkplatz stehen. Neben uns ein ziviler PKW. Zwei Männer in Outdoorkleidung steigen aus. Alle müssen ihre Pässe herzeigen, alle haben auch welche. Mit zwei Pässen in der Hand verschwinden die beiden in ihr Auto. Tippen in einen Computer. Telefonieren. Tippen wieder. Besprechen. Einige der Reisenden steigen aus. Alle murren. Die zwei Betroffenen warten ab. Was nicht passt? Ihr Pässe sind in einem EU-Land ausgestellt, das noch nicht zum Schengenraum gehört. Und das auch noch eine Weile nicht tun wird. Der BRD-Innenminister Friedrich hat vor wenigen Tagen erst das Seine dazu getan, dass der Schengenbeitritt von Bulgarien und Rumänien aufgeschoben wird. Wegen der Korruption!, wegen der chaotischen Justiz!, war sein erstes Argument. Aber dann weiß der «Spiegel» zu berichten: «Mit der vollständigen Freizügigkeit für die Bürger aus den beiden Ländern ab 2014 könne die Armutszuwanderung noch zunehmen, warnte Friedrich zuletzt wiederholt.» Die Armen also.
Zurück zu unseren Mitreisenden, die alles andere als arm waren und alles andere als verständnisvoll für die Sorgen des BRD-Innenministers. Nach rund fünfzehn Minuten war der Spuk vorbei. Auf die boshafte Frage eines Reisenden, was für einer widersinnigen Tätigkeit die Polizei da nachginge, zuckte einer der beiden mit den Schultern und sagte, was man niemals sagen sollte: «Wir tun ja auch nur, was wir tun müssen.»
Am U-Bahnsteig der Station Philadelphiabrücke traf man später auf drei Uniformierte. Sie waren gerade dabei, einen Mann, der sich durch «unbegründetes Sitzen» sein Recht auf ein schier endlos teilbares Gut (die warme Luft am U-Bahnsteig) nahm, hinauszuschieben. Aber genug des Abwatschens, wo die Kollegen aus der Lokalmatadorsabteilung doch gerade einen seltenen Exekutivbeamten aufgetan haben, «der dem alten Ideal vom Freund & Helfer sehr nahe kommt» (S. 15).
Versuchen wir es positiv zu sehen: Die Privaten sind auch nicht besser. Bei der Abfahrt aus Wien folgende Szene am neu gestriegelten Westbahnhof: In den dankenswerter Weise installierten Sitzecken, die sogar durch kleine Mauern von Windzug und Rollkoffern abgeschottet sind, saßen eine Gruppe Jugendlicher, ein Mann, ich mit Begleitung. Der Mann, vielleicht Anfang vierzig, hatte den Kopf in die Hände gelegt. Vielleicht war er müde. Vielleicht wollte er seine Ruhe haben. Vielleicht sinnierte er über Reisen, die er noch machen könnte. Flugs kamen zwei «Bahnhof-Securities» ums Eck, die sich vor ihm aufbauten und ihn zum Gehen aufforderten. Wir mischten uns ein. Der stört! Wen stört er? Die hier sitzen wollen! Aber er will doch auch sitzen? Hier wird aber nicht geschlafen, hier wird gereist!, so, sinngemäß, die Auseinandersetzung. Dann, weil immer noch niemand gehorchen wollte, wurde der Ton bedrohlicher und die Handbewegungen deuteten Gewalt an: «Schleich di jetzt, oder i zah die da außa.»
Dieses Mal haben die Guten gewonnen. Alle blieben sitzen und die Securities zogen ab. Ein Brief an die ÖBB, ob es für Securities denn ein bisschen Elmayer gäben könnte, blieb unbeantwortet. Vielleicht werden die kleinen Schutzmauern in Zukunft Schilder tragen mit der Aufschrift: «Hier darf nur sitzen, wer den ernsthaften Plan verfolgt, zu reisen.» Und zwar mit dem bisschen, was von der ÖBB übrig geblieben ist.