Augustin 341 - 04/2013
Zu unserer Beilage
In dieser Augustin-Beilage geht es vor allem um die voll schuldfähigen Straftäter_innen, die ihre Tat unter dem Einfluss einer «seelischen oder geistigen Abartigkeit höheren Grades» begangen haben.Nicht nur die Fritzls und Priklopils fallen unter diese Definition. Entsprechend ihrer Delikte werden sie zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, aber darüber hinaus bleiben sie eingesperrt, bis ihnen ein psychiatrisches Gutachten eine positive Verhaltensprognose bescheinigt. Also potenziell lebenslänglich.
Für Menschen, die sich in dieser «Maßnahmevollzug» genannten Misere befinden, ist das Weggesperrtsein eine Folter zum Quadrat: Nicht zu wissen, ob man heuer oder in zehn Jahren entlassen wird, lässt manche Betroffene an Selbstmord denken. Der «Maßnahmevollzug», das Schwerpunktthema unserer Eigen-Belage DIE FEILE, ist die größte Barbarei auf dem Feld des staatlichen Strafens. Wir wollen bei dieser Gelegenheit anmerken, dass wir auch das Gefängnis selbst als Barbarei sehen.
In Staaten wie Kanada oder Neuseeland arbeitet man erfolgreich an einer Alternative zum Gefängnis: «Restorative Justice», eine Form der Rechtsprechung, an der möglichst alle von einer Handlung betroffenen Personen teilnehmen und sowohl die Handlung selbst als auch deren Folgen für alle Betroffenen möglichst zwanglos besprechen. Zentral ist dabei die moralische Beschämung des Täters: Erst wenn der Täter sich für seine Tat schämt und bereit ist, sich für die Wiedergutmachung auch selbst zu engagieren, wird es möglich, ihm eine Brücke zur Reintegration zu bauen, so logisch ist das Konzept von «Restorative Justice». Eine zweite wichtige Voraussetzung ist die Zwanglosigkeit der Kommunikation – das heißt aber auch: die größtmögliche Distanz zu staatlichen Zwangspersonen wie Staatsanwälten oder Richtern. Schon das unterscheidet die «Restorative Justice» gravierend vom herkömmlichen Strafprozess. Tatsächlich ist aber praktisch alles anders – sogar das Ziel der Verhandlung. Ziel ist nicht eine abstrakte Bestrafung und die Wiederherstellung eines abstrakten Rechtsfriedens, sondern die positive Beendigung des Konflikts für die unmittelbar Beteiligten – nicht die Strafe und die Stärkung der staatlichen Autorität, sondern die Heilung von Verletzungen.
Sogenannte primitive Gesellschaften lernten die Barbarei des Gefängnisses erst kennen, als sie von europäischen Werten überschwemmt wurden. Ilija Trojanow hat in seinem Buch «Hüter der Sonne» eine Begegnung mit einem alten Weisen aus Zimbabwe geschildert: «Heute müssen Mörder ins Gefängnis. Unser Volk betrachtete das Verbrechen eines Einzelnen als das Verbrechen einer Familie, einer Gemeinschaft. Die ganze Familie musste Entschädigung leisten. Gemeinsame Schuld, gemeinsame Bestrafung.»
Irgendwann wird die Zivilisation das System Gefängnis für gescheitert erklären. Der Maßnahmevollzug aber, um zu unserem Beilagen-Thema zurückzukommen, gehört sofort reformiert. Franz Blaha, Justiz-Journalist des Augustin, hat in der Ausgabe Nr. 255 einen beredten Vergleich vorgeschlagen: «Wenn es bei einer Massenkarambolage auf der Autobahn zwanzig kleine Kinder zerfetzt, führt das nicht zu einem Volksbegehren zur Abschaffung der Autoindustrie. Das Risiko Verkehrsunfall zahlen wir als Preis für die Annehmlichkeit Auto. Das So-gut-wie-null-Risiko eines entlassenen Maßnahme-Insassen lässt keine Annehmlichkeiten erwarten, für die es sich lohnt – und schon dreht ein ganzes Volk durch. Das Stigma «geistig abnorm» rührt an dunkle Ängste …»