Augustin 344 - 05/2013
Woher wir wissen, wie wir sind
Wir praktizieren verschiedene Formen der Blattkritik. Bei Team- und Redaktionstreffen wird die aktuelle Zeitung nachbesprochen, dann gibt es Kritik von den Kolleg_innen: Wieso hast du dieses Bild ausgesucht, der Titel hier ist unverständlich, den Text find ich fad, und mit ein bisschen Glück kommt auch Lob: Dieses Gedicht hab ich gern gelesen, die Fotostrecke war toll, das Cover ist richtig gut gelungen, und weiter zum nächsten Tagesordnungspunkt.Variante zwei ist die kleine Umfrage: Wir erstellen Fragebögen zu den brennendsten Themen, bitten Leser_innen aus unseren Bekanntenkreisen um Antworten, gleichen die ab, sehen, wo sich die Kritik häuft, sehen ein, da könnten wir was ändern, schleichen zerknirscht zurück in die Redaktionsräume und murmeln: Das ist doch sowieso unrepräsentativ.
Die dritte Möglichkeit ist, fremde Leute zu beobachten, wie sie den Augustin lesen. In der U-Bahn, an der Bushaltestellte, im Pendler_innenzug. Genau hinzusehen, wo sie nicken und wo sie einnicken, bis zu welcher Seite sie den Kopf langsam von links nach rechts bewegen und was sie kaum eines Blickes würdigen.
Manchmal bekommen wir E-Mails mit sehr konkreten Angaben: «Von Martin Schenk bin ich hingerissen.» «Bitte unterlassen Sie dieses lächerliche Gendern!» Oder: «Strache ein Rechtsextremer? Wenn Sie diese Blattlinie beibehalten, spende ich das Geld künftig Gösser.» Auch daraus lässt sich lernen.
Kürzlich fand eine Kollegin auf dem Blog egotester.de zwischen einer Produktkritik von «GenuTrain Aktivbandage der Firma Bauerfeind, Farbe natur, Größe 2» und Rezensionen der Literatur von Marion Zimmer Bradley eine Augustin-Analyse, die an Präzision kaum zu toppen ist – so, liebe Leser_innen, stellen wir uns Blattkritik vor! Der Blogger, der sich als «Banker» tituliert, war laut eigenen Angaben als Tourist in Wien und hat uns in den drei hier verbrachten Tagen die Ehre erwiesen, den Augustin zu lesen. Und zwar gründlich. Da wird jeder einzelne Beitrag in seine Bestandteile gelegt, gelobt, kritisiert, korrigiert oder ob der Vermittlung neuen Wissens gewürdigt. Die Raiffeisenserie wird als «sehr raiffeisenhaltig» erkannt, der Humor mancher Bildunterschrift nicht geteilt, und ganz ohne Spott wird die Zeitung Wort für Wort auf Herz und Niere geprüft. Fazit: «Gewohnt scharfe, gut gemachte linke Texte und immer wieder unglaublich (ich nenn es mal) dumme Berichte.» Was an der Kritik besonders freut, ist der erste Absatz: «Der Kauf von Augustin»: Obdachlosenzeitungen, so der Blogger, hätten «eine große Gemeinsamkeit: sehr nette und freundliche Verkäufer. Die stehen meistens unauffällig rum, halten die Zeitung hin, und wenn man dann eine kauft, wird sich sehr nett und herzlich bedankt. Und wenn Zeit ist, laden die auch schon mal gern zu einem Schwätzchen ein. Wirklich, bei denen die Zeitung zu kaufen, hat mir bislang immer eine Freude gemacht. Nun wohlan, der Augustin hat mich 2,50 Euro gekostet, und ich stell den jetzt vor.» In voller Länge nachzulesen unter: