Augustin 397 - 09/2015

Die Bewegung ohne Namen
Asylbeamter: Fühlen Sie sich physisch und psychisch in der Lage, der nunmehrigen Einvernahme Folge zu leisten?
J: Ehrlich gesagt habe ich schon ganz andere Verhöre überstanden.
Asylbeamter: Auf die kulturellen Besonderheiten Ihres Herkunftslandes kommen wir später zu sprechen.
J: Das Merkblatt habe ich erhalten und gelesen. Habe keine Fragen dazu.
Asylbeamter (verblüfft): Woher wissen Sie, dass ich das als Nächstes fragen wollte?
J: Ich versuche, das Verfahren zu beschleunigen. Es warten jede Menge Leute.Ein kleiner Ausschnitt aus dem Dramolett unseres Mitarbeiters Manfred Wieninger «Christus kam nur bis Traiskirchen» (Seite 32). Inzwischen kann man sich ja vorstellen, dass solche Dialoge, noch dazu professionell vorgetragen, selbst im Bierzelt Applaus hervorrufen, wo vor einem halben Jahr noch bei jedem Rassistenwitz gegrölt wurde: «Eine Russe, ein Tschetschene, ein Kurde sitzen in einem Auto. Wer fährt?»
Es tut sich was im Lande. 50.000 Anhänger_innen der Ösi-Nationalmannschaft klatschen, als sie von «unserem» Team darauf aufmerksam gemacht werden, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der neuen Qualität des österreichischen Edelkicks und der Bereitschaft, Migrant_innen bis zur Spitze der Fußballwelt zu integrieren. 20.000 Wiener_innen (siehe unser Coverfoto von Victor Halb) demonstrierten für eine humane Asylpolitik. In Weiz, der Modellprovinzstadt der Flüchtlingsbetreuung (Seite 6), so erfuhren wir vom Initiator des vom Bürgermeister abgesegneten lokalen «Seid willkommen»-Plans, hat auch die Stadtratsfraktion der FPÖ die zelebrierte Solidarität mitgetragen. Sie hatte keine Wahl.
Fluchthilfe wurde zur Selbstverständlichkeit, wenn auch die Motive unterschiedlich waren. Manche fanden es sogar cool, den «Syriern» mit dem eigenen PKW entgegenzufahren und sie Gruppe für Gruppe über die ungarisch-österreichische Grenze zu bringen. Wie abgehängt, ganz aus der Gegenwart geraten wirkt der stoßseufzende bürgerliche Journalist, der kaum glauben kann, was sich auf den Bahnsteigen Wiens abspielt: «Die Illegalen werden wie Popstars empfangen!» Noch dazu von einem Querschnitt der Bevölkerung. Wenn eine zivilgesellschaftliche Kraft den Triumph Straches zur Illusion machen kann, dann ist es die aktuelle Solidaritätsbewegung für die Flüchtlinge. Ob diese Bewegung rasch wächst, hat für die Zukunft mehr Bedeutung als der Ausgang der Wahlen. Noch wächst sie: Fast jeden Tag erreicht zumindest ein Essay, ein Erfahrungsbericht, ein Leser_innenbrief, ein dokumentierendes Foto die Redaktion. Eine Wiener ehrenamtliche Fluchthelferin schickt uns ihr «ungarisches Tagebuch». In Györ wollte eine Familie mit vier kleinen Kindern nach Wien mitfahren. Die Chauffeurin musste noch kurz zum Bahnhof gehen, um Hilfsgüter abzugeben. Als sie zum Auto zurückkam, war die Familie auf neun Personen angewachsen. Ein Missverständnis löste sich langsam auf. Die Flüchtlinge aus Syrien glaubten, die Kleinkinder brauche man nach der Straßenverkehrsordnung nicht als Personen mitzählen. Die Wiener Fluchthelferin wollte ihr selbst und den Refugees Schwierigkeiten mit den Behörden ersparen. Ein überladenes Auto kommt nicht in Frage. Alle Flüchtlinge blieben in Györ. Ich lerne viel, jeden Tag, meint die Non-Profit-«Schlepperin». Heute habe sie gelernt, dass die flüchtenden Familien um jeden Preis zusammenbleiben müssen. «Und ich glaube, das ist auch der Grund, warum sie sich auf so verrückte Umstände wie verschweißte und vollgestopfte LKWs einlassen.»
Vielleicht ist sie es, die Fluchthelferin, die den Wagen vom Bierzeltwitz fährt, in dem die drei Ausländer sitzen. Aber wo wäre die Pointe? Natürlich sitzt die Kripo am Lenkrad, harrharr …