Augustin 405 - 01/2016
«Straftaten geschehen. Drei Millionen jährlich in Deutschland. 150 am Kölner Hauptbahnhof am 31. Dezember 2015. Sie werden von Inländern, Ausländern, Arabern und Nordafrikanern begangen. Manche vorwiegend von Inländern (Steuerhinterziehung). Manche vorwiegend von Ausländern (illegale Einreise). Manche geschlechtsspezifisch (Körperverletzung), manche gelegenheitsspezifisch (Betrug). Sie alle sind zu verfolgen und gegebenenfalls zu bestrafen. Nicht «mit der ganzen Härte», und nicht «energisch» und nicht «unnachgiebig». Sondern so, wie wir zivilisierten Rheinländer es gelernt haben: jeder Einzelfall nach seiner Verantwortung. Die Behauptung, Asylbewerber (oder Flüchtlinge) oder Ausländer müssten besonders gnadenlos bestraft werden, ist dumm und ohne jede Rechtsgrundlage.»
Der lange Kommentar des «ZEIT»-Kolumnenschreibers Thomas Fischer, hier nur ein kurzer Auszug, hatte was Beruhigendes.Was doppelt Beruhigendes. Fischer ist im Hauptberuf Bundesrichter in Karlsruhe; sein essayistisches Tribunal gegen die Instrumentalisierer der Kölner Silvesterereignisse, die plötzlich allesamt «Frauenversteher» geworden sind, lässt erkennen, dass die Vernunft an den Rändern beider Welten, die Fischer repräsentiert, noch atmet. In der Welt der Medien und in der Welt der Justiz. Als Editorialist kann mensch sich gar nicht entscheiden, was am zitierwürdigsten an diesem genialen «ZEIT»-Text ist, der Nachricht und Ironie auf eine Art verkuppelt, die der Schuljournalismus für unprofessionell erklärt. Darin ist er dem Text unseres Mitarbeiters Richard Schuberth ähnlich, dessen Silvesteranalyse im Februar-«Konkret» zu finden ist, aber hier schon vorweg genossen werden kann:
www.fischundfleisch.com/richard-schuberth/uebergriffe-die-irgendwie-arabisch-aussehen-14748
Zugegeben: Der redaktionseigene Beitrag zum Kölner «Sexmob» (Seite 10) ist evident hemdsärmeliger. Die intellektuelle Minderheit unserer Leser_innen, eine durchaus beliebte Teil-Zielgruppe des Augustin-Journalismus, geht hoffentlich nicht leer aus. Das Augustin-Interview mit Nanni Balestrini zum Beispiel (Seite 6) wird Grübler_innen einiges zum Grübeln geben. Vielleicht werden sie Balestrini Desillusionierung vorwerfen. Aber was lässt sich wirklich gegen Befunde wie folgenden vorbringen: «Zumindest in Italien gibt es heute keine Bewegung, die die Mühe wert wäre, beschrieben zu werden.» Und wenn das für Italien gilt, ist es für das Schnitzelland noch zutreffender. Sagt der Augustin, nicht Balestrini.
Aber hier kommt der Unterschied zwischen Literatur und Publizistik zum Tragen. Balestrinis Job, der des Weltliteraten, ist es, eine panoramatische Sicht auf die Wirklichkeit zu entwickeln. Unser Job, von boshaften Menschen links-missionarischer Partikular-Interessens-Journalismus genannt, ist ein Mutmacherjob. Die unscheinbarste Keimform des Widerstandes gegen das Bestehende ist uns die Mühe wert, beschrieben zu werden, vielleicht knüpfen andere daran an und multiplizieren die Veränderungsenergien. Ob es die Austrokurd_innen sind, die uns die Augen vor EU-Partnern wie der Türkei öffnen (Seite 8), ob es der Häftlingsgewerkschafter ist, der sich aus Protest den Mund zunäht (Seite 12), ob es der skandalös unversorgt gebliebene Lungenentzündungspatient ist, der am Sparkurs fast krepierte (Seite 12), oder ob es ein Maler aus der Provinz ist, der die Braunen seiner Region braun nennt (Seite 24) – das ist der sprichwörtliche Moldau-Bach, der einmal zum Moldau-Strom werden wird, weil das Kleine naturgemäß nicht klein bleiben kann.
Übrigens: Mühe bereitet uns all das nicht wirklich. Denn es handelt sich zum großen Teil um Realitäts-Ausschnitte, die an uns herangetragen werden. Unserem wachsenden «Informant_innennetz» sollte auch einmal Dank erstattet werden.