Augustin 406 - 02/2016
Sie da! Genau, Sie
Letztens musste ich im Ambulatorium auf einen Termin warten. Im Warteraum, der direkt vor den Schaltern der Anmeldung beginnt, waren mit mir neben dem Personal etwa sieben Personen. Ein Mann um die vierzig begann zu telefonieren, er ärgerte sich offensichtlich über einen Preis, den er zu bezahlen hatte, und stellte mehrmals die rhetorische Frage: «So viel verlangt der?», um dann nachzufragen: «Wie heißt der denn überhaupt?» Die Antwort war für uns Wartende nicht hörbar; er aber kommentierte sie laut auflachend für alle: «Ah so! A Jud.»Zuerst dachte ich entschuldigend, die anderen müssten wohl mit der Lektüre ihrer Krankenakten oder ihrer Zeitungen beschäftigt sein und würden darum keine Reaktion zeigen. Als hätte der Telefonierende die gleichen Zweifel, bestätigte er seine Position und rief noch einmal in den Hörer: «So teuer, das kann ja nur a Jud sein.»
In mir passierte dreierlei: Erstens, ich wünschte mir, dass mir das hier nicht wirklich passierte. Zweitens, ich ging im Kopf die Leute durch, die mir in den letzten zehn Jahren weismachen hatten wollen, Antisemitismus als gesellschaftliches Angebot gäbe es in Österreich nicht mehr. Drittens, ich musste mir in Sekundenschnelle (eine Person des Pflegepersonals kam gerade auf mich zu, um mich mit einem Formular zu beschäftigen) meinen Auftritt zurechtlegen.
Ein Hauptgrund, keine Zivilcourage zu zeigen, ist die Angst vorm Blöddastehen (die nagte auch an mir). Weil man nicht gehört wird; weil alle anderen im Raum sich abwenden; weil suggeriert wird, dass man selbst es ist, die stört – und nicht diese andere Person, in unserem Fall der Telefonierer. Beginnen Sie mit den Worten: «Sie da!» Das sichert Ihnen die nötige Aufmerksamkeit. «Sie da!», rief ich dem Telefonierer zu, als er sich wieder setzen wollte, um in seiner Zeitung zu blättern: «Hören Sie auf, Juden zu beschimpfen.» «Wie bitte?», fragte er dankenswerterweise. Ich wiederholte meine simple Forderung. Die anderen Anwesenden sahen mich missbilligend an oder peinlich berührt auf den Boden. Die Pflegeperson ersuchte mich mit professionell ruhiger Stimme, mein Formular auszufüllen. Es war ihnen allen weit weniger unangenehm, dass jemand auf einen Juden schimpfte, als dass jemand ihm sagte, er möge nicht auf Juden schimpfen. Auch das ein altes Prinzip, das man ständig aufs Neue verlernen muss. Von den Zivilcourageworkshops, die zwei Kollegen aus Redaktion und Vertrieb für Schüler_innen anbieten, lesen Sie auf Seite 14. Und auch ansonsten bietet diese Ausgabe jede Menge Lesestoff über Frauenhäuser (S. 6), All-Girl-Bands (S. 24), Gasthäuser (S. 16) und Gefängnisse (S. 8 und 36), der zum couragierten Durchs-Leben-Strawanzen animieren soll. Sie da! Haben Sie eine gute Lektüre.