Augustin 409 - 03/2016
Die Lüge des Nordens heißt «Hilfe»
Ist «Entwicklungszusammenarbeit» nur ein neuer Name für das kolonialistische Konzept der «Zivilisierung der Unzivilisierten» bzw. für die modernere Version, wonach der Süden die Probleme hat («Unterentwicklung»: Mangel an Kapital, Mangel an Technologie, Missachtung der Menschenrechte usw.) und der Norden die Lösung («Entwicklung»: Investitionen, Expert_innen, Parlamentarismus usw.)? Verdient »Hilfe», die nicht darauf aus ist, revolutionäre gesellschaftliche Transformationen in den betreffenden Ländern des Südens und globale Prozesse zur Herstellung einer gerechten Weltordnung zu unterstützen, den Namen «Hilfe»?
«Weit davon entfernt, bedingungslos zu sein, ist moderne Hilfe unverhohlen berechnend; von der sorgsamen Erwägung des eigenen Vorteils viel eher geleitet als von der besorgten Betrachtung der Not des andern. Hilfe ist auch nicht mehr Hilfe in Not, sondern Hilfe zur Beseitigung von Defiziten. Die offenbare Bedrängnis, der Hilfeschrei dessen, der in Not ist, ist kaum mehr Anlass der Hilfe.
Hilfe ist vielmehr die unerlässliche, zwingende Konsequenz einer von außen gestellten Hilfsbedürftigkeitsdiagnose. Ob jemand Hilfe braucht, entscheidet nicht mehr der Schrei, sondern der Standard der Normalität. Der Hilferufer ist seiner Autonomie als Rufer beraubt.» Hier wird Marianne Gronemeyer zitiert, die sich in ihrer Entwicklungshilfe-Kritik vor allem auf Ivan Illich bezieht. Handeln Entwicklungshelfer_innen pauschal auf der Basis von fragwürdigen Hilfsbedürftigkeitsdiagnosen? Gronemeyer war im Februar in Wien. Den ersten Teil ihres irritierenden Vortrages finden Sie auf Seite 6. «Ich kann mir keine bessere Plattform für meine Thesen vorstellen als den Augustin», streute uns die deutsche Autorin Gänseblümchen.
Was ist überhaupt »Entwicklung»? Wenn eine Stadt sich von unbestellter, wild wuchernder und staatskritischer Street Art «säubert», haben die Stadtpolitiker_innen einen «Fortschritt» erzielt, denn Investor_innen lieben keinen Wildwuchs. Aus der Sicht der Sprayer_innen der Rebellion in Kairo ist eine weiß übermalte Graffitiwand ambivalent: ein Rückschritt, weil die gesprayte Botschaft unterdrückt wird, und eine Chance, weil die geweißte Fläche Platz schafft für neue Aufschreie (Seite 24).
Das Thema der Jahre 2015, 2016 ff sind die «Flüchtlingsströme», die «Obergrenzen», die «Zäune». Wir leisten uns in dieser Nummer den Luxus, die Aufmerksamkeit dem Thema Grenze zuzuwenden – und dabei die Flüchtlingsangelegenheiten auszusparen. Als der Eiserne Vorhang fiel, hofften viele, dass nun zusammenwachsen werde, was zu trennen null Sinn macht. Beispiel Waldviertel: Aus der Luft sieht die 3000-Einwohner_innen-Stadt České Velenice noch heute aus wie ein Vorort des etwas größeren Gmünd. Vor 26 Jahren hätte der Prozess eingeleitet werden können, der zu einer Verschmelzung der beiden Grenzorte hätte führen können. Nichts dergleichen geschah (Seite 16). Sogar die ganz alten Hirschen, die ja bekanntlich nicht so abgrenzungssgierig und patriotisch wie die Menschen sind, haben – wie ich jüngst einer Zeitung entnahm – den Eisernen Vorhang noch in ihren Hirschköpfen drin. Grenzüberschreitungen sind für sie angeblich tabu. Wusste nicht, dass der Hirsch in uns so tief sitzt …