Augustin 419 - 09/2016
Drei Gesetze genügen ...
Wien sei gerade dabei, den Status als sicherer Ort zu verlieren, schreibt Hans Rauscher, der «Standard»-Kolumnist. Wie wäre es also mit einer Art »Null Toleranz-Strategie», fragt er. Die kleinsten Delikte hart bestrafen, die Ordnung störende Menschen, z. B. aggressive Bettler, rasch vor Schnellgerichte bringen, Graffiti sofort entfernen – solche Vorschläge wirft er in die Debatte. Uns interessiert hier weniger der Umstand, dass die Wirksamkeit solcher Rezepte schon hundertmal widerlegt ist, sondern wir sind überrascht zu hören, dass Kollege Rauscher in Besitz einer scheinbar allgemein akzeptierten Methode zum Messen des Sicherheitsstatus ist. Wie sonst könnte er so sicher sein, dass Wien den bisherigen Status verliert?Wann genau verändert sich die Sicherheit zur Unsicherheit hin? Ab einer bestimmten Zahl von Morden? Von tödlichen Verkehrsunfällen? Von muslimischen Kindergärten? Von Augustinverkäufer_innen? Von Burkas? Von Trottoirhundstrümmerln? Von schwarzen Blöcken? Von Entführungen Industrieller? Von entdeckten Hanfplantagen pro Quadratkilometer? Von Parallelgesellschaften? Da wollen auch wir uns nicht zurückhalten mit unseren Erfahrungen, was die Stadt unsicher macht. Die Unsicherheit steigt, wenn selbst liberale Zeitungen eine Publizistik der Aufklärung und der Recherche durch die Politik der Angst, die Politik der Gefühle ersetzen.
Auf jedem Bücherflohmarkt sind heutzutage taoistische Weisheiten zu finden. Esoterik? Nein, überlieferte Erfahrungen, die abendländische Angstschürer wie Rauscher und Co. ignorieren. «Je mehr Gesetze und Vorschriften erlassen werden, desto mehr Räuber und Diebe gibt es» – der weiseste der taoistischen Sprüche. Im alten China wurde er geschichtsmächtig. Die Ch’ in-Diktatur (3. Jahrhundert v. Chr.) wurde durch Liu Ping gestürzt, als die Bevölkerung das autoritäre System der Kontrolle und der tausend Regeln nicht mehr aushielt. Die neue Dynastie schaffte sämtliche Gesetze und Verordnungen ab und verkündete, dass nur noch drei Gesetze gelten sollten: gegen Totschlag, gegen Raub und gegen Überfälle. Karl Kraus wird 2000 Jahre später die Kritik an der Verordnungs-Inflation aufgreifen: «Ich verlange von einer Stadt, in der ich leben soll: Asphalt, Straßenspülung, Haustorschlüssel, Luftzheizung, Warmwasserleitung.» Was ums Verrecken entbehrlich ist, fehlt in der Liste: Registrierkassenverordnung, Generalrauchverbot, Null-Toleranz, Brandschutzverordnung. Was letztere betrifft, gilt die Abwandlung der ganz oben genannten kollektiven Cleverness: Je schärfere Brandschutzverordnungen, desto mehr Kosten, die durch Falschalarme ausgelöst werden, und desto weniger konsumfreie Kommunikationszentren.
Wenn Wiener_innen andere Großstädte besuchen, wundern sie sich oft über für sie ungewöhnliche Toleranz – der Sicherheitsbehörden ebenso wie der Bevölkerung – gegenüber abweichendem Verhalten. Die kleinen Obdachlosen-Gemeinschaften unter den Brücken Hamburgs (Seite 6) wären derzeit in Wien sofort kriminalisiert. Dass im Namen der Freiheit der Kunst Interventionen möglich sind, die ansonsten als Eigentumsdelikte geahndet werden, zeigt Kerstin Kellermanns Reportage aus dem Tullnerfelder Ort Pixendorf (Seite 16).
Ein anderes Thema: Der Augustin unternimmt den Versuch, einer vergessenen Antifaschistin, der 1995 verstorbenen Marie Tidl, endlich jene Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, die sie verdient (Seiten 24 und 31).