Augustin 427 - 01/2017
Verblüffend: eine Träne …
21 Jahre lang durfte ich den Augustin mitgestalten. Der laufende Schmäh unserer Verkäufer_innen wird mir abgehen. Ich war ihm nicht immer gewachsen.Zum Beispiel fiel mir spontan nichts ein, als ein Augustiner mich fragte: «Wos sogst du ois Unbeteiligter eigentli zum Thema Intelligenz?» Als ich einmal in unserem Innenhof den Dreck wegkehrte, begann ein Augustiner das proletarische Lied aus dem revolutionären 1918er-Wien zu trällern: «Die noblichten Herrn mit de goldenen Stern, die wer’n die Stroßn jetzt kehr’n …» Welch feine Ironie! Sie galt der Tatsache, dass es selbst Projekten wie dem Augustin schwerfällt, die Vision der Gleichheit mitten in einem System der tiefwurzelnden Ungleichheit zu realisieren.
Meine «goldenen Sterne» – das war zusammengelesenes Wissen, das ich wie Strandgut ohne Copyright sammelte. Sogar auf banale Fragen wie «Wozu soll eure Zeitung gut sein?» reagierte ich mit Aristoteles, was mir im Rückblick heute eher abgehoben erscheint. Von diesem Klassiker stammt aber nun einmal die geniale Einsicht, man könne eine Stadt nicht mit Menschen aufbauen, die alle einander gleichen. Man könne eine Stadt nur mit verschiedenen Leuten aufbauen. Ich «übersetzte» Aristoteles in die Augustinsprache: Ein System, das den Namen Stadt verdient, muss mindestens einen Mörder, einen Kinderverzahrer, einen Ewiggestrigen, einen Hochstapler, eine Zuhälterin, einen Stoßspieler, einen notorischen Geisterfahrer, einen Kaplan mit zehn unehelichen Kindern, einen Stalinisten, einen politisch Unkorrekten, einen Fremden mit gefälschtem Augustinausweis und einen Amokläufer haben. Der erste Bürgermeister von Tel Aviv soll ergänzt haben: Eine Stadt ohne einen einzigen Antisemiten sollte sich nicht Weltstadt nennen. Wenn man das alles nicht aushalten kann, könne man ja im Dorf bleiben.
Es wäre schön zu wissen, wozu der Augustin in diesen ersten zwei Jahrzehnten wirklich imstande war. Ist dank ihm die Zahl derer größer geworden, die – resistent gegen den Sicherheitswahn – im Verschiedenen eine Bereicherung sehen und die Sündenbock-Konstruktionen, für die derzeit Migrant_innen herhalten müssen, durchschauen? Hat der Augustin mitgeholfen, sich einem Zustand anzunähern, in dem niemand mehr Angst haben muss, «anders» zu sein?
Ich stolpere beruhigt in die Rente, weil ich weiß, dass das Team aus Gerechtigkeits- UND Freiheits-Matador_innen besteht, und dass die Praxis des Sozialprojekts Augustin genau so wie die des medialen Projektes ein ständiger Versuch der Verbindung beider Werte ist. Ich rede von «stolpern», weil mein Abschied keine gerade Linie ist. Ich möchte weiterhin journalistische Beiträge liefern, und in der nächsten Vollversammlung werde ich den Antrag stellen, die sanft entschlummerte Schreibwerkstatt des Augustin revitalisieren zu dürfen. Ich würde diese «Anstalt für Dichtungen aller Richtungen» (Arbeitstitel) nicht sehr paternalistisch führen. Von Sartre habe ich immer jenen Spruch am meisten gemocht, in dem er sinngemäß meint, er habe nie Befehle erteilen können, ohne über sich zu lachen, und nie habe jemand Befehle von ihm entgegengenommen, ohne über ihn zu lachen.
Ich wisch mir eine Träne, die sich verblüffend gebildet hat, aus dem Augenwinkel und sage ciao.