Ausgabe 461 - 06/2018
Nützlichkeitsüberlegungen
12-Stunden-Tag, Mindestsicherungskürzung, Geschenke an die Industrie: Die Mär von der Schließung der «Balkan-Route» durch den juvenilen österreichischen Kanzler reicht längst nicht mehr aus, um die neoliberale Agenda der schwarz-blauen Bundesregierung hinreichend zu verschleiern.Flankiert vom albanischen Premier Edi Rama verkündete Sebastian Kurz am 30. Mai daher Folgendes: Es gäbe alarmierende Anzeichen dafür, dass sich eine neue Fluchtroute vor unser aller Augen etabliere: die «Albanien-Route». «Die Flüchtlinge» würden demnach von Griechenland aus nach Albanien ziehen und von dort über Bosnien und Herzegowina, Kroatien und Slowenien nach Österreich gelangen.
Albanien bleibt freilich auch ungeachtet der Kurz’schen PR-Nummer Teil des Balkans und die Zahl derer, die bislang im Jahr 2018 die österreichische Süd-Grenze «illegal» übertreten haben, unverändert. Sie liegt bei neun.
Darum aber ging es dem Kanzler nicht. Wenn es jemanden gibt, der ohne jeden Skrupel und einen Rest von Anstand dazu bereit ist, die Stimmung gegen Geflüchtete anzuheizen, dann ist es Sebastian Kurz. Das rassistische Ressentiment der FPÖ entspringt vor allem einer Haltung, jenem der ÖVP liegen Nützlichkeitsüberlegungen zu Grunde.
Wozu die seit Jahren vergiftete Stimmung in diesem Land ganz konkret führt, beschreibt in diesem Heft Nadine Kegele. Auf Seite 36 trägt sie Alltagserfahrungen von von Rassismus betroffenen Frauen zusammen, die kaum beklemmender sein könnten – und erzählt zur gleichen Zeit, wie man voneinander lernend mächtig werden kann, dem täglichen Wahnsinn entgegenzutreten.
Dabei hat dieses Land Schutzsuchenden nicht immer so übel mitgespielt. Jorge Cafaro etwa, uruguayanischer Linker und Oppositioneller, fand Mitte der 70er Jahre hier – in Traiskirchen, in Mödling, zuletzt in der Praterstraße im 2. Bezirk – Zuflucht vor der sein Heimatland regierenden Junta. Erich Hackl hat ihn anlässlich seines jüngsten Wien-Besuchs porträtiert (Seite 10).
Das Cover dieser Nummer zieren indes Klitclique – «Wiens Antwort auf traurige Boys», wie sie selbst sagen. Nina Prader hat die Rapperinnen, deren Debutalbum Schlecht im Bett Gut im Rap im Juni erscheint, in der Nordbahnhalle zum Gespräch getroffen (Seite 26).
Keinen Satz hörte man vom Kanzler zuletzt übrigens auch zu den Vorgängen im Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung, das die FPÖ seit Monaten auf rechts zu bürsten versucht – genauso wie den ORF, dessen Stiftungsrat mit Norbert Steger erstmals ein Freiheitlicher vorsteht. Apropos ORF: Schon Ende April unterhielt sich Alexander Behr aus Anlass des 200. Geburtstags von Karl Marx mit Bini Adamczak. Im Gegensatz zu Behrs eigenem Text zumThema, der am 5. Mai auf orf.at erschienen ist, entschied man sich amKüniglberg offenbar gegen eine Veröffentlichung des Gesprächs mitAdamczak, wie die Suhrkamp-Autorin mitten in der Endproduktion dieserNummer auf Facebook berichtete. Wir sorgen für Abhilfe und haben das gesamte Interview kurzerhand ins Heft gerückt. Den, zugegeben,späten Beitrag zu Marx’ 200. Geburtstag lesen Sie auf Seite 12.