Enttäuscht von der Führung der SozisArtistin

Marie Wendl-Hofmann-Tidl – Hommage an eine Nichtbeachtete

Es gibt keine Entschuldigung dafür, dass die 1940 der Vorbereitung eines Hochverrats bezichtigte Marie Wendl-Hofmann-Tidl, später Mittelschulprofessorin und Schriftstellerin, nicht einmal im Kreis der an widerständigen Biografien Interessierten sehr bekannt ist. Ein Beitrag zur Gedächtniskultur von Georg Tidl.

Foto: privat

Als am 19. November 1938 um sechs Uhr früh die Gestapo so laut an die Tür klopfte, dass es im ganzen Haus widerhallte, lag unter Maries Bett noch die Abendlektüre vom Vortag: Ein französisches Buch, mit großem «Hitler»-Schriftzug am Umschlagdeckel. Die Beamten standen schon im Zimmer, als es Maries Mutter gelang, das Buch ins Nachtkastl unter den schon benützten Nachttopf zu schieben. Die Gestapo fand das Buch nicht. Anschließend wurde es sofort verbrannt. Als die Gestapo Marie abführte, forderte sie ihren Vater, einen Sozialdemokraten, noch auf, das Bild von Viktor Adler an der Wand durch eines von Adolf Hitler zu ersetzen. Darauf der Vater, der aus Protest im Bett geblieben war: «Ihr habts´s recht, der gehört dort scho’ aufgehängt!» Um ein Haar hätten sie den Vater auch mitgenommen.

Eingesperrt wurde Marie im Gefangenenhaus des Landesgerichts für Strafsachen Wien I., Landesgerichtsstraße11. Haftgrund: Mitgliedschaft in einer von der Landesleitung der KPÖ errichteten Studentengruppe an der Universität Wien. Ihre Gefängniszelle teilte sie mit Prostituierten. Ihnen tat das Mädel leid. Mit ihrer Hilfe überlebte sie in einer ihr völlig neuen Welt. Einen der Häfenweisheiten bildete die Basis ihrer Verteidigungsstrategie: «Sagst du ja, bleibst du da! Sagst du nein, gehst du heim!» Marie sagte zu allen Vorhaltungen Nein. Das war ich nicht! Das weiß ich nicht! Den kenn ich nicht!

Am 3. Oktober 1935 hatte Marie an der Philosophischen Fakultät der Uni Wien die Fächer Germanistik, Geschichte und Französisch inskribiert. Sie wollte Mittelschulprofessorin werden. In atemberaubender Geschwindigkeit hatte sie ihr Studium vorangetrieben. Prüfung folgte auf Prüfung: bei Nadler, Kralik, Ettmayer, Wurzbach und Srbik. Vor allem Univ.-Prof. Srbik war von seiner Dissertantin Marie Hofmann, ihrem Eifer und Erfolg überzeugt. Mitten in diese Erfolgsgeschichte platzte die Verhaftung.

Maria Hofmann, die Mutter, eine Vollwaise aus Nussdorf am Attersee, später Kindermädel beim Direktor der Creditanstalt, war von Anfang an die treibende Kraft gewesen, die ihrer Tochter den Besuch einer Mittelschule ermöglichte und selbst gegen den Vater ein Studium durchsetzte – oft unter großen materiellen Opfern. Die Nazis sollten sie von ihrem Ziel nicht abhalten. Und so versuchte die Mutter, die nur eine vierklassige Dorfschule besucht hatte, das Studium ihrer Tochter fortzusetzen. In der Bibliothek kannte sie sich bald aus: Bücher entlehnen kein Problem. Aber auch im Studienbuch bestätigten für das Winter-Semester 1938/1939 die Univ.-Professoren Srbik, Egger, Krug, Wiepner eigenhändig, dass Fräulein Marie Hofmann an ihren Vorlesungen, «Deutsche Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert», «Römische Geschichte I», «Geschichte der Erziehung», «Gotische Übungen» teilgenommen hatte. Marie saß im Gefängnis seit 19. November 1938, ihre Mutter Maria saß in den Vorlesungen.

Die Belegscheine der Universitätsbibliothek füllte Maria Hofmann sorgfältig aus, entlehnte die Bücher im Namen ihrer Tochter und brachte sie ins Gefängnis. Die Gefängniswärter wunderten sich über die für sie exotischen Titel: «Grundriss der französischen Literatur Geschichte», «Französisches Proseminar», «Französische Literatur». Die Seiten der Bücher wurden von der Wache genau gezählt und vermerkt. Bei Rückgabe ebenso. Die damals knapp 50-jährige Frau, die sehr charmant und höflich sein konnte, fand offensichtlich Sympathie beim Wachpersonal, alles ältere Männer. Sie machten Frau Hofmann keine unnötigen Schwierigkeiten, und so manches Stück ihres legendären Gugelhupfs wechselte den Besitzer im Halbgesperre.

Mutter Hofmann lief sich die Füße wund zwischen Universität, Gefängnis, Rechtsanwalt und Haushalt, und die Tochter las, exzerpierte und schrieb, schrieb, schrieb.

Am 17. April 1940, Marie Hofmann ist immer noch in Untersuchungshaft, bestätigte das Dekanat der philosophischen Fakultät, dass die Dissertation mit dem Thema «Die Frauenarbeit in der n. ö. Textilindustrie. Ihre Entwicklung in den ersten 100 Jahren bis 1848 mit besonderer Berücksichtigung der Fabrikarbeiterin» von stud. phil. Marie Hofmann abgegeben und mit 10. April 1940 approbiert wurde.

Ein Nazi-Anwalt – ohne das Wissen der Gefangenen

Ohne das Wissen ihrer Tochter, bat sie den Nazi-Anwalt, Walter Riehl, ihre Tochter zu verteidigen, denn sie war überzeugt: Mächtige kannst du nur mit Mächtigen schlagen. Im sozialdemokratischen Umfeld wurde dieser Entscheidung nicht goutiert. Ihr war das egal. Sie wollte mit allen Mitteln ihre Tochter aus dem Gefängnis holen. Walter Riehl, seit 1919 Vorsitzender der DNSAP, einer Schwesternpartei der NSDAP, konnte sich langfristig gegen Adolf Hitler nicht durchsetzen. Trotzdem blieb er in der nationalsozialistischen Bewegung eine anerkannte Größe. Er hat sicher einiges zum Freispruch Maries beigetragen, vor allem aber bewahrte er sie vor dem Konzentrationslager.

Am 25. September 1940, fast zwei Jahre nach ihrer Verhaftung, wurde Marie die Anklageschrift zugestellt. «Vorbereitung des Hochverrates»: «Die Angeschuldigten Leberstorfer, Hoffmann und Popper gehörten der von der Landesleitung der KPÖ errichteten kommunistischen Studentengrupe an der Wiener Universität an …»

Am 5. Dezember 1940 wurden die Urteile gefällt. Die Schlacht um Stalingrad, die Wende im 2. Weltkrieg war noch nicht eingetreten. Die Urteile fielen – so scheint es – relativ mild aus, wenn nicht gleichzeitig eine Überstellung in ein KZ bereits angeordnet worden war.

Josef Leberstorfer wurde zu 2 Jahren und 5 Monaten Zuchthaus verurteilt. Die Angeklagten Marie Hofmann und Rudolf Popper wurden freigesprochen … in dubio!

Aber schon am 5. Mai 1939 hatte SS-Obergruppenführer Heydrich den Schutzhaftbefehl gegen Marie Hofmann unterzeichnet. Damit wäre der Freispruch praktisch wertlos gewesen, wie bei Rudolf Popper. Er war Jude. Bei ihm wurde der Schutzhaftbefehl exekutiert. Der Nazi-Anwalt Dr. Walter Riehl, den die Mutter von der Unschuld ihrer Tochter überzeugen konnte, hatte die Macht, den Schutzhaftbefehl rückgängig zu machen. Marie Hofmann konnte Weihnachten 1940 zu Hause feiern.

Immer auf der Seite der Schwächeren

Am 5. April 1941, drei Monate nach ihrer Entlassung wurde Marie das Doktordiplom der Philosophischen Fakultät mit dem Gesamturteil «sehr gut» verliehen. Am 6. Juni 1944 schloss sie ihr Lehramtsstudium ab. Mit 16. September 1944 wurde sie nach Spittal an der Drau versetzt, zum Dienst an der Oberschule für Jungen. Am 2. Oktober begann sie zu unterrichten. Marie: «An meiner Schule in Spittal waren zwei Lehrerkollegen, die die Partisanen unterstützten. Der eine hat Mathematik unterrichtet, der andere Gesang. ‹Smert Faschismu› – Tod dem Faschismus, wir haben Sternderln mit dieser Aufschrift geklebt und Flugblätter gemacht.»

Bald nach Kriegsende heiratete Marie Hofmann. Ihr Mann: ein Kärntner aus einer Familie von Widerstandkämpfern. Mit ihm kehrte sie nach Wien zurück. Sie hieß von da an Marie Tidl und unterrichtete in Wien im Mädchenrealgymnasium in der Haitzingergasse und später in der Hegelgasse.

Ihr Vater war sozialdemokratischer Gewerkschafter gewesen. Sie war mir der «Arbeiter-Zeitung» aufgewachsen, die ihr politisches Weltbild prägte, ihre Ethik, ihre Lebensphilosophie. «… Ich erinnere mich noch an des Motto: ‹Wo es stärkere gibt, immer auf der Seite der Schwächeren!› Das war für mich ein sehr wichtiges Motto, ich hab mich bemüht, irgendwie danach zu leben. Ich erinnere mich an sehr viele Sozialreportagen, auch an sehr viel Literatur, Gedichte, Feuilletons, Kurzgeschichten, die immer wieder an den Humanismus, an die Anständigkeit, an das soziale Engagement – würde man heute sagen – appelliert haben und die sehr großen Eindruck auf mich gemacht haben.» Aber die Enttäuschungen über die sozialdemokratische Führung 1933, 1934, 1938 und auch nach 1945 haben aus ihr eine überzeugte Kommunistin gemacht. Als Mittelschulprofessorin – und das bestätigen ihre ehemaligen Schülerinnen immer wieder – hat sie zwar aus ihrer Gesinnung kein Geheimnis gemacht, aber sie hat sie im Unterricht vorgelassen. Als Schriftstellerin hat sie jedoch Farbe bekannt und sich kein Blatt vor den Mund genommen. In der Zeit, in der sie schriftstellerisch am aktivsten war, tobte der Kalte Krieg, Antikommunismus war sehr modern, Antifaschismus weniger. Deshalb hat Marie Tidl fast alles unter Pseudonym geschrieben. Als Marie Hofmann und als Marie Wendl, der Mädchenname ihrer Mutter, sicher auch aus Dankbarkeit gegenüber diesem einfachen Bauernmädchen, das später am liebsten französische Expressionisten las.

Es ist an der Zeit, Maries Werk in seiner Gesamtheit gebührend zu würdigen.