Die Russen kommen und ein BildDichter Innenteil

Zweiter Teil

Am Gartenzaun, wo an der Ecke der Nussbaum stand, der in den damaligen Sommern mit der dort hingezimmerten Sitzgruppe auch ein beliebter Treffpunkt war, erzählte Meinrats Mutter, ja, da habe es bei Kriegsende etwas gegeben, da seien im Bretterwald Leute erschlagen worden. Aber Näheres wisse sie nicht. Und dabei wurde es belassen, das Kind Meinrat sah niemanden, den er noch befragen hätte können.

Foto: Hans Bogenreiter

Auch der Vater, als Fan des christlich-faschistischen Ständestaats, der auch hinterher daran glaubte, dass der Dollfuß dem Hitler die Stirn geboten hätte, kam da nicht in Frage. Aber warum der Vater nicht beim Kameradschaftsbund mitmarschierte, erklärte sich nicht. Denn schließlich hing im Schlafzimmer sein Soldatenbild in der Uniform der deutschen Wehrmacht: hoch zu Ross, mit zufriedener Miene. Erst im Rahmen einer Diskussion nach einer Vorführung der Hasenjagd wurde Meinrat viele Jahre später wieder mit den Geschehnissen in der Welt seiner Jugendjahre konfrontiert. Und noch später stand Hans Leberts Wolfshaut einige Jahre ungelesen in Meinrats Bücherschrank in der Hauptstadt, in der er seit vielen Jahren lebte. Da der Roman im Klappentext von der Jelinek besonders gelobt wurde, erinnerte sich Meinrat anlässlich der Verleihung des Nobelpreises an die Jelinek an das Werk, und schon nach wenigen Seiten wurde Meinrat bewusst, dass er auch an einem Ort des Schweigens aufgewachsen war und so mancher darin beschriebener Charakter ihm sehr bekannt erschien – mehr als nur bestätigt von einer Gänsehaut, die ihm kalt den Rücken runter ief. An wen hätten sich traumatisierte Kriegsveteranen – die einen stürzten sich von früh bis spät in die Arbeit, zündeten in den Pausen eine Zigarette an der anderen an, die anderen versuchten alles im Alkohol zu ertränken – denn wenden können? Auch Meinrat fand keinen Zugang zu seinem Vater. Aufarbeitung von persönlichen Problemen, Gesprächstherapie war völlig unbekannt, dies betraf nicht nur die Kriegsheimkehrer, und bevor sich ein Beladener dem Stigma des «Narrischen», des «Durchgedrehten», der ins psychiatrische Krankenhaus nach Mauer einzuliefern ist, aussetzte, wählte er oft den Freitod.

Es wurde und wird geschwiegen


Bei den jährlichen Allerheiligen-Gedenken an die Opfer beider Weltkriege sind der Holocaust, der Millionen Menschen das Leben kostete, die Opfer des Widerstands, die ihr Leben für die Freiheit gaben, die Wehrmachtsdeserteure, die das gegenseitige Abschlachten nicht mehr aushielten, nicht der Rede wert. Geschwiegen wurde und wird auch über die Massaker, die in den letzten Kriegstagen stattfanden. Menschen, die Ende April 1945 bereits auf ein Ende ihrer Leidenszeit hofften oder sogar möglicherweise ein Glücksgefühl einer Befreiung erlebten, fanden nach dem Todesmarsch über das Gebirge nur ihre Mörder. Sechzehn wurden in Mitterschweigen begraben, und die Grabinschrift «Hier ruhen 16 Israelis» lässt auch die Geschichte dahinter ruhen. Und erst 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges erfuhr Meinrat, dass es damals eine Widerstandsgruppe Erlauftal gegeben hatte, deren Anführer in Schweigen am See am Tag nach der Kapitulation der Nationalsozialisten ermordet wurde. Zufällig wurde Meinrat zugetragen, es würde noch ein Zeitzeuge leben, der als Bub die Leiche, eingewickelt in Stacheldraht, gesehen hätte. Ein anderer Zeuge widersprach dem, er sei vor seiner Ermordung nur geschlagen und eben nicht gefoltert worden. Dies alles erfuhr Meinrat anlässlich einer Exkursion aus der Hauptstadt, wo die Gruppe in der früheren Alpenfestung in Schweigen am See Schauplätze von Massakern in den letzten Kriegstagen des Aprils 1945 besuchte. Einheimische, vor allem Honoratioren, ließen sich dabei nicht blicken. Allenthalben, in allen wichtigen Medien, auf so vielen Plakaten, wurde in dieser Zeit für eine Landesausstellung über den Vaterberg geworben, und Meinrat sah sich gezwungen, sich auch den Kopf über die so unfassbar schwierige Preisfrage, die mit bedeutungsschwangerer Stimme aus dem Äther klang, zu zermartern: In welchem Bundesland befindet sich dieser Berg? Und darüber hatte Meinrat doch glatt vergessen, was es zu gewinnen gab.

Auch Meinrat schwieg, raffte sich nicht auf


Auch Meinrat schwieg, raffte sich nicht auf, wenigstens den Pfarrer von Mitter-Schweigen zu ermutigen, neben den Soldaten auch stets der anderen Opfer zu gedenken. Immer hatte er eine Ausrede parat. Was könnte der denn bewirken, so lange weg von daheim, vernetzt nur mehr über den Fußball? Und selbst da fuhr man ihm über den Mund, wenn er sich im Wirtshaus einmal aufspielte: «Wenn ich so einen bsoffenen Voda hätt’ wie du, würde ich die Papp’n im Wirtshaus nicht so weit aufmoch’n». Da wurde er bloß blindwütig gewalttätig, und nur seine Freunde verhinderten glücklicherweise Schlimmeres. Oder wurde Meinrat mehr gebremst durch die Befürchtung, als Weggegangener von den Daheimgebliebenen geächtet zu werden, wenn er an solchen Eckpfeilern der Gemeinschaft rüttelte? Was soll’s: «Es führt kein Weg zurück», hatte bereits Wolfe vor 90 Jahren festgestellt und das Dilemma – das jedenfalls auf so viele Flüchtlinge zutrifft, denen hinter ihrem Rücken unüberwindliche Barrieren wachsen oder auf denen im Exil bereits ein letales Schicksal wartet – bis in die kleinsten Details und Facetten beschrieben, nachdem sein viel beachteter Romanerstling in seiner Heimatstadt einen Riesenskandal ausgelöst hatte. Aber Meinrat brauchte keine «zehn Jahre später» um zu erkennen, dass «I’m Going Home» andererseits oft unausweichlich ist und zumindest hin und wieder das Gefühl zur Heimkehr überhandnimmt, als würden einem starke Gummibänder zu diesem Flecken Erde und seinen Menschen zurückziehen. Wie der angespannte Hosenträger mit der papierenen Zeche, den der Schreier Fritz mit einem lauten, eindringlichen «Franz, Franz» (damals bekannt aus Funk und Fernsehen) auf den Senior-Wirt des gemütlichen Landgasthauses zur Post zurückschnalzen ließ und damit diesen, der nicht so hieß, völlig verwirrte.

In der Öffentlichkeit wenig wahrnehmbar


Das Schweigen wurde dann doch etwas gebrochen: fast sieben Jahrzehnte danach – die meisten Zeitzeugen also schon tot –, wenn auch nur leise, dezent, in der Öffentlichkeit wenig wahrnehmbar, in Publikationen von ein paar engagierten Menschen.

Meinrat suchte vor einigen Jahren, in Begleitung seines Sohnes, auf der Hauptstraße vergeblich nach einem Hinweisschild für die Gedenkstätte des Massakers in Unterschweigen – in Oberschweigen erinnert ein Obelisk an ein ähnliches Massaker. Fuhr in die falsche Abzweigung, dann auf Nachfrage fand er den Weg und nun sogar das Hinweisschild «Zur Gedenkstätte». Sie gingen die schmale Straße runter in das enge Tal. Die Straße endet bei einem verlassenen Hof. Davor die Talsenke, am Rande des mit Haselbüschen bewachsenen Grabens eine kleine Holzhütte, dahinter freier Blick auf die Wiesen, die nach rechts zum bewaldeten Graben abfallen und noch oben sanft ansteigen. Wieder zurück auf die Straße, nein, das muss dort sein, Umkehr, zurück zur Hütte. Dann zufällig, nachdem sich schon Ratlosigkeit ausbreitete, entdeckten sie die A4-Tafeln, die gut verborgen, jedoch dadurch geschützt vor Regen und Schnee, unter dem Dachvorsprung der Hütte hingen – und dahinter einen schlicht gehaltenen Gedenkstein, errichtet auf Initiative des Pfarrers von Unterschweigen. Schüler des Polytechnischen Lehrgangs hatten die einfachen Tafeln angebracht, die erschütternde Details des Massakers zur Sprache brachten: Um Ruhe zu bewahren wurden die Kinder von den SSlern ermutigt, die gerade blühenden Frühlingsblumen zu pflücken, dann kehrte Ruhe erst wieder ein, als die Waffen schwiegen und alle 100 jüdischen Gefangenen erschossen waren.

Wie jedes Jahr waren sie vorm Kriegerdenkmal angetreten, die Vereine, der Kameradschaftsbund, die Feuerwehr, die Goldhauben, der Kirchenchor, der Bürgermeister, der Obmann des Kameradschaftsbundes, der Feuerwehrhauptmann und der Pfarrer sprachen vor der vollzählig angetretenen Gemeinde gemeinsam: «Wir haben uns heute wieder hier versammelt, um der Toten der beiden Weltkriege zu gedenken, aller Soldaten, die für das verbrecherische Regime der Nationalsozialisten ihr Leben lassen mussten, aller jüdischen KZ-Häftlinge, die nach langer Leidenszeit hier in unser Gebiet kamen und in den letzten Kriegstagen von SS-Leuten unter Beteiligung von Einheimischen erschlagen wurden, aller Wehrdienstverweigerer, aller Deserteure, die hingerichtet wurden, weil sie nicht auf Menschen schießen wollten. Wir gedenken aller Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen, Menschen mit Behinderung oder die als ‹asozial› verunglimpft wurden, politisch Andersdenkenden, Angehörigen von Minderheiten und Religionsgemeinschaften, die alle ermordet wurden, nur weil sie nicht dem Menschenbild des Nazi-Regimes entsprachen. Im Gedenken an die so verheerenden Kriege wollen wir uns nun dafür einsetzen, dass Österreich anstelle von Militär und Luftraumüberwachung Friedensprojekte fördert.»

Nur ein (Tag-)Traum, schon 1982 bemerkte Hans Hartz: «Die weißen Tauben sind müde.»

 

Fotobeschreibung:

«Dann zufällig, nachdem sich schon Ratlosigkeit ausbreitete, entdeckten sie die A4-Tafeln, die gut verborgen, jedoch dadurch geschützt vor Regen und Schnee, unter dem Dachvorsprung der Hütte hingen – und dahinter einen schlicht gehaltenen Gedenkstein, errichtet auf Initiative des Pfarrers von Unterschweigen. Schüler des Polytechnischen Lehrgangs hatten die einfachen Tafeln angebracht, die erschütternde Details des Massakers zur Sprache brachten.»

Teil 1

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