Reise auf sechs Beinen (2. Teil)Dichter Innenteil

2. Tag: Erlaufboden – Trübenbach – Trefflingfall – Eibenboden – Schindelhütte – Tropfsteinhöhle

Illustration: Andrea Vanek

Der Wind hat gehalten, was er versprochen hat. Keine Wolken sind mehr zu sehen. Nach einem Frühstück ohne Schwarztee oder Kaffee(!) – der bleibt mir verwehrt, weil sich die Gastwirtin mit einer Lieferantin vertrascht – gehen wir deutlich später los als geplant. Dafür gibt mir die Hausherrin Preisrabatt auf ihr «spartanisches Wallfahrerzimmer». Bei aller Heimeligkeit finde ich den Preis doch angemessen. Vieles hat ein wenig vernachlässigt ausgesehen und die Bedienung hätte meine Eltern sicher erzürnt. Doch den Preis verstehen wir beide als guten Kompromiss.

Die erste Asphaltstraße bisher geleitet uns in sanften Schwüngen bergauf und bergab. Hohe Berge begrenzen das Tal. Eine gerodete Fläche für Strommasten oder einen Sessellift in der Ferne verrät mir die tatsächlichen Dimensionen dieser Kulisse. Die tau-feuchte Wiese beherbergt alle möglichen Arten von Blumen und Kräutern. Breitblättrige, dünnblättrige, fingerförmige. Langstieliger Enzian, Eisenhut, Geißlatt, Ochsenzungen, Augentrost. Und viele, deren Namen ich nicht kenne oder die ich noch nie gesehen habe. Wasser überall. Es sickert aus den Hängen, rinnt und tröpfelt über Felswände und sammelt sich in seichten Kanälen neben der Fahrbahn. Der Hund schaut immer wieder nach oben, als suche er nach etwas. Er lässt sich Zeit, akzeptiert endlich mein Tempo. Mir fällt auf, dass ich eine Blasenentzündung habe. Es wird immer schlimmer. Alle paar hundert Meter verkrieche ich mich ins Gebüsch. Kaum habe ich ein paar Tröpfchen herausgepresst, gaukelt mir meine Blase schon wieder vor, dass sie entleert werden müsste. Es ärgert mich. Es vermiest mir das Wandern. Ich denke ans Aufgeben. Es macht mich ganz wahnsinnig, ständig das Gefühl zu haben, pinkeln zu müssen. Aber ich will noch nicht aufgeben. Ich nehme mir vor, nach jedem Wasserlassen ein paar Schluck zu trinken, um wenigstens einer Dehydrierung vorzubeugen. Und ich nehme mir vor, so lange wie möglich auszuhalten, damit ich den Blasenausgang nicht unnötig reize.

Wir betreten die Strecke von Trübenbach aus. Die Erlauf zeigt sich hier als reißender Gebirgsfluss. Der Anfang erscheint mir wie die Gegend um den Offensee. Später muss ich an den Enns-Ursprung denken. Die Nadelbäume sind verschwunden, stattdessen halten Buchen und Ahörner den kaffeefarbenen Waldboden mit ihren Wurzel zusammen. Der Weg folgt auch hier dem Flusslauf. Er ist rutschig und stellenweise sehr schmal. Umgefallene Bäume versperren uns den Weg. Es ist keine Menschenseele zu sehen. Auf der 2 km langen Straße haben wir ein Auto und einen Rennradfahrer gesehen. Auf dem Wanderweg häufen sich die Begegnungen, je näher wir Eibenboden kommen. Die Farbe des Wassers wirkt sehr anziehend. Man möchte hineinspringen und ganz untertauchen. Obwohl mir das Brennen im Unterleib eigentlich eine Warnung sein sollte, muss ich hinein. Ich entbinde den Hund von seinen Lasttierpflichten und schicke ihn voraus. Offenbar übt das Smaragdgrün eine ähnliche Anziehungskraft auf ihn aus. Er springt mit einem Satz hinein, obwohl es, wie ich bald merke, kalt ist wie Schmelzwasser. Ich ziehe mich bis auf die Unterwäsche aus. Die Kälte fährt mir in die Knochen, betäubt meine Füße. Ich lasse mich an einer sandigen Stelle bis zum Hals hineinplumpsen, nur für eine Sekunde, und wiederhole die Prozedur für etwas längere Zeit an einer anderen Stelle. Vielleicht hilft es meiner Blase sogar. Ich achte darauf, dass ich immer ein Stück Traubenzucker im Mund habe, denn ich bin müde und schlapp. Ich fühle mich krank. Wir kommen an einer hölzernen Hängebrücke vorbei, deren Ende auf unserer Seite abgesägt wurde. Auch einige Wasserfälle passieren wir. Ich frage mich, wo wir sind. War das schon der Trefflingfall? Die Strecke ist wunderschön mit dem sonnendurchfluteten Blätterdach, der schwarzen Erde und dem klaren Fluss, der die Felsen zu merkwürdigen badewannen-gleichen Gesteinsformationen ausgespült hat. Wir überqueren ihn mehrmals. Die Eisengitter sind hier kleinmaschiger, sodass man schlechter hindurch sieht. Der Hund läuft unbeirrt darüber.

Wie es wohl wäre, einen Bären zu treffen?

Ich muss abermals daran denken, wie es wohl wäre, einen Bären zu treffen. Ich male mir eine unschöne Szene aus, in der der arme Hund zuerst attackiert wird, weil er versucht, mich zu verteidigen. Ob er meine Gedanken lesen kann? Ich stelle mir eine bessere Version für ihn vor, um ihn nicht zu beunruhigen. In dieser Vorstellung stellt sich der Bär drohend auf die Hinterbeine. Plötzlich beginne ich zu wachsen, ich werde größer und größer, bis ich über die Bergwipfel blicke. Ich hebe den Hund hoch über meinen Kopf und verpasse dem Bären einen Fußtritt, der ihn bis ins nächste Forstgebiet befördert.

Trotz der traumhaften Umgebung wünsche ich mir, dass wir endlich die Schindelhütte erreichen. Ich muss mich ausrasten und ich habe Hunger. Ich möchte meine Mutter anrufen und ihr sagen, sie soll mich aus Lackenhof abholen, denn noch so ein Tag wird mir zu viel. Ich habe Angst, so krank zu werden, dass ich wie schon einmal im Waldviertel irgendwo kurz vorm Ziel auf offener Strecke liegen bleibe und nicht mehr weiter kann.

Schließlich erreichen wir den echten Trefflingfall. Unverkennbar, weil durch ein Schild ausgezeichnet und eindeutig größer und mächtiger als alle anderen Wasserfälle, bahnt er sich seinen Weg in die Erlauf. 1 ¼ Stunden bis zur Schindelhütte steht dort auf einem Wegweiser. Eine Viertelstunde später ist noch immer die selbe Zeit angegeben. Wir kommen an einer Raststation vorbei, die allerdings keinen Betrieb führt. Nach kurzem Erwägen entscheide ich mich doch dafür, weiterzugehen. Ich könnte sowieso nicht lange sitzen bleiben. Eine weitere Asphaltstraße bringt uns über flacher verlaufendes Gelände zur Schindelhütte. Auf der ganzen Strecke habe ich keinen Empfang. «Nur für Notrufe!», erscheint auf dem Display. Die Schindelhütte ist ebenfalls außer Betrieb. Dienstag Ruhetag. Kein Geräusch verrät die Anwesenheit irgendeiner Person. Kurzerhand wird aus dem geplanten Mittagessen eine kalte Jause. Trotz meines Hungers schmeckt es mir nicht wirklich. Der Hund beschwert sich mit ungeduldigem Winseln über die Pause. Ich zwinge mich, ein paar Schluck von den Vitamin-Drink zu trinken, den meine Mutter gekauft hat, um meine Kraftreserven aufzustocken. Das süßlich-sämige Getränk auf Joghurtbasis schmeckt nach künstlichem Heidelbeeraroma und Hefe. Genauso sieht es auch aus: eine dickflüssige beige Substanz. Immerhin hilft sie. An der Schmalseite des Hauses steht ein Wassernapf, der zum Glück nicht geleert wurde. Der Hund steigt misstrauisch über den dicken gelben Wasserschlauch, als wäre er eine Schlange, und säuft ein bisschen.

Mein Körper spielt verrückt

3 ½ Stunden verspricht der Wegweiser nach Lackenhof. Seltsam, wie wichtig es mir plötzlich erscheint, die genaue Dauer zu erfahren. Gestern habe ich den Zeitangaben kaum Bedeutung beigemessen. Da nicht zu erwarten ist, dass sich der Empfang bessert, packe ich abermals meine Habseligkeiten zusammen und schultere den Rucksack. Ich schwitze erbärmlich und friere umso mehr, wenn eine Brise weht. Zu meinem Entsetzen bemerke ich, dass meine rechte Hand, in die mich vor mehreren Tagen eine Wespe gestochen hat, wieder anschwillt und juckt. Auf der anderen bildet sich ein leichter Hitzeausschlag. Mein Körper spielt verrückt. Doch was bleibt mir übrig, als weiterzulaufen? Natürlich könnte ich auf der Straße auf eine Mitfahrgelegenheit warten. Vieles spricht jedoch dagegen: Kaum jemand nimmt jemanden mit einem Hund mit. Es dauert Stunden, bis man hier auf ein Auto trifft. Es wäre äußerst unbefriedigend, jetzt aufzugeben.

Am Anfang führt der Pfad steil zwischen Fichten bergauf, ähnlich wie beim Mattras-Steig in der Nähe von Grein. Selbst der Hund hat mit dieser Steigung zu kämpfen. Einmal gibt die Erde nach und er rutscht aus. Er hat nicht mehr genug Kraft, um die Böschung vor ihm mitsamt seinen Tragetaschen zu überwinden. Ich packe ihn am Geschirr und zerre ihn hinauf auf die nächste Stufe. Ein beunruhigender Anblick bietet sich mir; Eine Reihe beinah senkrecht in die Höhe führender Eisengittertreppen dient zur Überbrückung einer Felsenstadt. Wenigstens handelt es sich um die Version mit den schmalen ovalen Öffnungen. Etwas nervös ertastet sich der Hund den Untergrund. Er hat wohl begriffen, dass uns kein anderer Weg zur Verfügung steht. Ich bemühe mich, seinem Wunsch nachzukommen und das Hindernis möglichst schnell zu überwinden. Oben angekommen bin ich völlig außer Atem. Das verbliebene Wasser trinke ich in gierigen Zügen aus – und ich ärgere mich über meine Vergesslichkeit. Bei der Schindelhütte hätte ich Gelegenheit gehabt, die Flaschen neu aufzufüllen. Wenn der Weg weiterhin zu verläuft, werde ich das nicht lange durchhalten. Und für den Hund habe ich gar kein Wasser mehr. Der Weg meint es aber gut mit uns. Bei der (geschlossenen) Tropfsteinhöhle gibt es eine Tränke. Es geht noch eine Weile bergauf, dann haben wir die Bergkuppe erreicht.

Der erste Teil von Andrea Vaneks «Reise auf sechs Beinen» erschien in Ausgabe 434 und ist hier nachzulesen. Der 3. und letzte Teil wird in Ausgabe 438, die am 7. Juni erscheint, veröffentlicht.