von Maria Wendl*
Der Speisesaal und der Gastgarten waren voll besetzt, die Wirtsleute und Bediensteten damit beschäftigt, die Menüs I und II anzurichten und aufzutragen, à la carte wurde wenig verlangt, aber getrunken viel, denn es war ein heißer August. In den übrigen Räumen des Sonnenhofes, die nicht unmittelbar der im Prospekt gepriesenen Verpflegung dienten, befand sich zu dieser Stunde keine Menschenseele, ausgenommen in einer kleinen Stube, deren Fenster nicht auf den See hinausging, sondern auf den gepflegten Misthaufen. Dort schlief in ihrer langen Witwenschaft die alte Wirtin.
Grafik: Karl Berger
Sie lag auch jetzt oben, allein, obwohl kleine Schachteln und Flaschen neben und der halbgefüllte geblümte Topf unter ihrem Bett auf ihre Pflegebedürftigkeit schließen ließen. Befragt, ob sie sich nicht vernachlässigt fühle, hätte sie erstaunt verneint und hinzugefügt: «In der Saison is es net anders.»
Aber selbstverständlich kam kein Gast, um diese Frage zu stellen, die wenigsten wußten überhaupt von der Existenz einer alten Wirtin, und wenn auch, es hätte doch keiner eine Antwort bekommen. Die alte Wirtin war tot, gestorben eine Stunde vor der Mittagszeit, an die sie noch gedacht hatte, froh, daß man ihr das Essen erst später bringen würde, denn es war ihr nicht danach, und sie aß seit Monaten nur aus Gewohnheit und um die Küche noch ein wenig unter Kontrolle zu halten.
Gleich nach der letzten Gästeportion befaßte sich die junge Wirtin mit einer kleineren, aber auserlesenen für ihre Mutter und trug sie ihr auf einem Tablett hinauf. Sie merkte gleich, was geschehen war, aber sie verlor nicht den Kopf, bekreuzigte sich im gewohnten Tempo, faltete der Toten die Hände, schloß ihr die Augen und die Türe von außen, steckte den Schlüssel in ihre Schürzentasche und stieg die enge Stiege wieder hinunter. Ihr Mann verhandelte gerade mit dem Fahrer eines Bierautos, und sie störte ihn nicht dabei, sondern redete ihn erst an, als er die Kisten aus dem Weg geschafft hatte. Er hörte ihr mit gesenktem Kopf zu, fragte nur, ob sie auch sicher abgesperrt habe. Er setzte sich an den zunächststehenden Tisch – sie waren alle mit den gleichen rotkarierten Tüchern bedeckt –, hieb mechanisch nach einer Spinne, die sich vom Kastanienbaum heruntergelassen hatte, und seufzte: «A Jamma!»
Die Frau kannte ihren Mann und verstand, daß sein Kummer nicht dem Tod ihrer Mutter galt, der sekkanten und neidigen Alten, wie er sie in einem Vierteljahrhundert oft genug genannt hatte, und so sagte sie ein wenig spitz: «Sie hat sich die Zeit net aussuchen können.»
Er lenkte ein, wiederholte aber doch: «A Jamma!»
Seine Freude, die Freude des Eingeheirateten über die lange ersehnte Erbschaft, die er endlich genießen konnte, wurde ihm vergällt durch die Sorge um die Gegenwart.
«Dem Kriegerverein und der Feuerwehr können ma net absagn.»
Die Frau gab ihm recht. Sie merkte, wie ehrlich sein Bedauern war, daß ihrer Mutter, der er oft genug den Tod gewünscht hatte, nun Weinsoße und Biskuitt nicht mehr länger schmeckten, und obwohl sie den wahren Grund dieses Bedauerns kannte, milderte es ihren töchterlichen Schmerz, sie war ihrem Mann dankbar dafür und bereit, ihm in nichts zu widersprechen.
Er fuhr fort: «Die Plakate fürs Lampionfest hängan a scho!»
«Ja.»
Das brachte ihn nicht weiter und so fing er wieder an, sie auszufragen. «Hast es der Annelies‘ scho‘ gsagt?» Das war die Tochter.
«Na.»
«Dem Franz?» Das war der Schwiegersohn.
«Na.»
«Dann sagst s eahna. Aber sunst braucht s kaner z wissen. Der aus Hannover will übern See fahrn. Wann i zruck bin, setz ma uns z’samm. Im Stübl.»
Im Stübl schauten die vier, wie sie der Reihe nach eintraten, auch die Tochter, aufmerksam auf die Tote herunter, wie um sich zu vergewissern, daß die Tatsache, um die es ging, unwiderruflich war. Dann lehnten sich die beiden Jungen gegen die Kastentüren, ordentlich gerahmt standen sie dort. Die Alte hatte immer mit zwei Sesseln ihr Auslangen gefunden. Eine Schmeißfliege bumste wieder und wieder gegen die Scheiben des geschlossenen Fensters. Die Enkelin, die nervös nach ihr schlug, sie aber nicht erwischte, rief beinahe weinend:
«Wir können s aber doch net da liegenlassen! Sie wird uns ja stinkat!»
Sie war im dritten Monat und zum erstenmal schwanger und daher ein wenig überempfindlich.
«Vielleicht, wenn sie s in der Nacht holen», meinte ihr Mann beruhigend.
«Des tan s net», setzte der Wirt diesem Gedankengang ein Ende. Schweigen. Was jeder denkt, braucht keiner zu sagen: Welcher Gast schläft schon gern mit einer toten Wirtin unter einem Dach? Und welcher behält seinen Appetit, wenn neben der Speisekarte ein Partezettel hängt?
Nicht mehr Wirtsenkel
Der künftige junge Vater, nun nicht mehr Wirtsenkel, was doch keiner sagt, sondern Wirtssohn und dafür dankbar, gab sich weiter Mühe, sich etwas einfallen zu lassen.
«In die großen Städt», sagte er bedächtig, «haben sie große Eiskästen für die G’storbenen. Da liegen sie wochenlang drin und warten, bis sie an die Reihe kummen.»
Unsicher wegen der Wirkung seiner Worte schaute er auf den Wirt. Der vergrub die rechte Faust in seinem Hosensack. Beinahe hätte er sie wie beim Kartenspielen auf den Tisch fallenlassen. Trumpf und zuadraht! Er schob sich zu seiner ganzen Größe empor, ein «pater familias» der Bauernbühne, und ließ seine Worte gewichtig fallen: «An großen Eiskasten ham mir a.»
Damit war ausgeredet.
Die Wirtin trug nach wie vor die Mahlzeiten ins Stübl hinauf, nur die Portionen wurden ausgiebiger, denn sie aß sie selber, und ihre Arbeit in der Küche war keine Spielerei. Sie zog eine etwas schwachsinnige Magd ins Vertrauen, so halbwegs nur, und den alten Knecht, der immer schwerhöriger wurde, und die beiden schleppten dann die Schweinsschultern, -schädel und -schinken, Würste und Sulz, Butterziegel und Käsestangen aus dem Eiskasten in die Speis und in den Keller, wo vor dem Umbau alles Verderbliche aufbewahrt worden war, der Knecht erinnerte sich noch gut daran.
Das übrige besorgte das Ehepaar kurz nach Mitternacht. Die Alte hatte schon ihr schwarzes Sonntagskleid an, sie trug sich leichter als ein Stapel dieser modernen Metallsessel, die hölzernen Stufen krachten kaum, und die Gäste schliefen tief, urlaubsmüde vom Baden und Wandern. Noch einmal lief die Tochter hinauf, einen Polster zu holen, gegen den sie die Mutter zu lehnen versuchten, die ganz ausgestreckt doch zu lang gewesen wäre, und sie zog auch noch die Dahlien aus dem Krug am Küchenfenster und schob sie mit hinein. Im letzten Augenblick, sodaß ihr die schwere Tür beinahe die Finger eingeklemmt hätte. Vielleicht wäre das Kreuz aus dem Herrgottswinkel passender gewesen, aber es war gar ein großes und möglicherweise wäre es noch jemandem abgegangen.
Auch sonst vermißte niemand etwas
Die Dahlien gingen niemandem ab und auch sonst vermißte niemand etwas. So wie die Gäste das Schönwetter lobten, das anhielt, so lobten sie die Küche, die von Tag zu Tag besser wurde. Die Fleischportionen erreichten eine märchenhafte Größe und auch mit Würsten wurde nicht gegeizt. Und just bevor die zartesten Mägen ihrer überdrüssig werden wollten, startete der Wirt wie begabt mit einem sechsten Sinn, eine Folge der köchstlichsten Mehlspeisen, die wiederum alle zufriedenstellten.
Das Auto des letzten Abschied winkenden Pensionärs kreuzte sich am Ortsausgang bei der Tafel «Auf Wiedersehen am Langensee» mit jenem des amtierenden Gemeindearztes. Der wurde gleich in die Gaststube gebeten und dann erst hinauf ins Stübl, wo er die Alte gegen ihre Polster gelehnt tot vorfand, wie ihm gesagt worden war. Wohl schien sie ihm ein wenig starrer und kälter als üblich, aber er wußte um die Relativität aller Empfindungen und um die Wirkung des Birnenen, dessen Geschmack ihm noch auf der Zunge lag. Für einen Septembermorgen war es außerdem ungewöhnlich warm, und schließlich sollte er ja der alten nicht die Temperatur messen, sondern für die Hinterbliebenen einen Totenschein ausstellen. Das tat er also auch, sodaß alles seinen Gang nehmen konnte.
Der lange Zug der Trauernden
So wand sich bald darauf hinter dem Leichenwagen der lange Zug der Trauernden zwischen den abgeernteten Kukuruzfeldern zum Friedhof hinauf, der Veteranenverein spielte wie für den eigenen Hauptmann, der Pfarrer lobte die Bescheidenheit und die Wirtschaftlichkeit und noch andere -heiten und -keiten der Dahingegangenen, und bei dem folgenden Kondukt, das selbstverständlich im Sonnenhof stattfand, ließ sich der neue Wirt nicht lumpen, was allerseits Anerkennung fand.
Im Sommer darauf kam mit den Stammgästen auch der Gast aus Hannover wieder.
«Ham Se nich im Vorjahr kurz nach der Saisong ihre Schwiejamutter bestattet?» fragte er gleich nach dem ersten Frühstück den verblüfften Wirt. «Schade, det wir det nich jesehen ham. Die Trachten, die Musikanten, det volkstümliche Jeflenne und det janze katholische Ritual, so wat kennen wa in Hannover ja nich. Det wa det vasäumt ham, kann mer richtich leid tun.»
Er drückte die Hand des Wirtes und begab sich, unter Einsatz seines Alpenstocks tüchtig ausschreitend, über die Asphaltstraße zur gegenüberliegenden Trafik.
Der Wirt sah ihm innerlich fluchend nach. Da hatten sie sich solche Mühe gegeben und dann war es erst das Verkehrte gewesen. Er sah den Leichenzug wieder vor sich. Man hätte ihn noch herausputzen können und die Gäste hätten sich mehr darum gerissen als um das Lampionfest. Er ließ sich ein Bier einschenken und stürzte es hastig und verärgert hinunter. Das nächste Mal … Ein Husten überfiel ihn und er erschrak. Wie, wenn er selber? Er sah sich im Sarg liegen, im neuen Anzug mit den Hirschhornknöpfen, die er eigentlich nicht leiden konnte. «Ich laß mir andere annähen», beschloß er, und ohne Rücksicht auf zwei Gäste, die noch mit ihren Buttersemmeln beschäftigt waren, spuckte er einen gewaltigen Flack in den Sand, genau auf die Stelle, wo kurz zuvor der aus Hannover gestanden war.
*Anm.: Maria Wendl war eines der Pseudonyme, unter denen Marie Tidl ihre literarischen Texte veröffentlichte. «Saisonbetrieb» erschien erstmals in der Wochenendbeilage der «Volksstimme» vom 19./20. Oktober 1973. Dank an Georg Tidl für die Überlassung des Texts und Nadine Kegele für die Transkription.