Von Santiago nach Simmeringtun & lassen

Juan Neira, einst Puppenspieler in Chile, hat Österreich zu seinem «Habitat» gemacht

In Simmering versteckt sich in einer ruhigen Seitengasse das Centro Once. Dort schaltet und waltet Juan Neira, Musiker, Künstler, Brückenbauer. Alexander Stoff hat ihn getroffen und erfahren, wovon Juan als junger Puppenspieler in Chile träumte, wie ihm die Flucht gelang und wie man sich in der Fremde ein neues «Habitat» aufbaut.

Bild: Museo de la Memoria y los Derechos Humanos, Chile

Die Augen von Juan Neira leuchten, und er beginnt herzhaft zu lachen, wenn er von den Kindern damals in Chile erzählt. Damals, das ist im Jahr 1970, als der sozialistische Präsident Salvador Allende gewählt wird und Juan selbst gerade mal 17 Jahre alt ist. In einem großen Park mitten in Santiago de Chile organisiert er für die Kinder soziales Kasperltheater. Die kleinen Knirpse, meist Kinder aus Arbeiter_innenfamilien, reden ihn ganz selbstverständlich mit «Compañero» an.

Aber lassen wir den Blick ein paar Jahre zurückschweifen. Juan Neira wird Anfang der 1950er Jahre in der chilenischen Hauptstadt Santiago geboren. Seine Familie mit bäuerlichem Hintergrund wandert aus dem Süden nach Santiago und lässt sich dort im Arbeiter_innenviertel Barrancas am Rande der Stadt nieder. Vom Fenster aus beobachtet Juan schon als kleines Kind die Gewalt der Sicherheitskräfte, wenn die Arbeiter_innen mal wieder streiken. Das Armenviertel Barrancas ist ein heißes Pflaster für soziale Konflikte. Als Juan schließlich in die Handelsschule wechselt, gerät er zum ersten Mal in Berührung mit politisch aktiven Schüler_innen. Er nimmt an Schulstreiks teil und beteiligt sich auch an den Besetzungen, mit denen 1966 – ähnlich wie auch heute wieder – in Chile eine Bildungsreform gefordert wird. Mehrere Male wird Juan wegen einer Schulbesetzung der Schule verwiesen.

Als Salvador Allende bei seiner vierten Kandidatur zum Präsidenten gewählt wird, hegt Juan wie viele andere Chilen_innen große Hoffnungen auf soziale Veränderung, Gerechtigkeit und ein gutes Leben für alle – auch wenn er der Regierung kritisch gegenüber steht. Juan gehört nämlich zu den «jungen Wilden», in deren Augen der Prozess der Veränderung viel zu langsam vonstatten geht. Viele Arbeiter_innen und die Armen «machen Lärm», um die Dynamik der gesellschaftlichen Veränderung durch die Poder Popular («Volksmacht») zu beschleunigen. Salvador Allende hingegen möchte aus Angst, die politische Rechte im Land zu provozieren, lieber leiser treten.

Schon bevor Allende überhaupt als Präsident angelobt wird, zeigt der Faschismus seine hässliche Fratze: Zwei Tage vor seinem Amtsantritt wird General Rene Schneider von Rechtsextremen ermordet, weil er sich loyal zur Verfassung bekennt und sich der Demokratie verpflichtet fühlt. Wenn Juan auf diese Zeit zurückblickt, dann fällt ihm auf, dass Salvador Allende der einzige chilenische Politiker ist, für den er mit den Jahren immer mehr Respekt entwickelt hat. Andere Politiker_innen, selbst aus dem linken Lager wie die heutige sozialistische Präsidentin Michelle Bachelet, haben sich mit den Verhältnissen arrangiert. Das neoliberale Regime, das von der Pinochet-Diktatur gewaltsam durchgesetzt wurde, wurde nach dem Übergang zur Demokratie zu Beginn der 1990er Jahre bruchlos fortgeführt.

Bewaffnet mit Gitarren und Flöten

Am 11. September 1973 werden die Träume und Hoffnungen von unzähligen Chilen_innen zerschmettert und der Schrecken der Militärdiktatur von General Pinochet verbreitet von nun an Terror. Juan hat großes Glück, denn er entgeht mehrmals den Schergen der Diktatur, einmal nur um wenige Minuten. Drei Monate vor dem Putsch wird er mit anderen aus dem elektrotechnischen Betrieb entlassen, wo er mit der Organisation des Puppentheaters betraut ist, weil die Firmenleitung den Verdacht «revolutionärer Umtriebe» äußert. Gegenüber dem Parque O’Higgins, wo sich die Kinderbühne befindet, befindet sich eine Kaserne. Gleich nach dem Putsch stürmt die Armee den Park, und viele Arbeiter_innen werden zu Opfern der Diktatur – die Entlassung hatte Juan also sozusagen gerettet. Auch das Haus seiner Eltern wird immer wieder von Militärs durchsucht. Juan sucht Hilfe beim Anwaltsbüro der ökumenischen Friedensbewegung. Erst wird ihm nahegelegt, das Land zu verlassen. Als Juan jedoch ein Visum nach Deutschland ablehnt und seine feste Überzeugung zum Ausdruck bringt, in Chile bleiben zu wollen, sind die Vertreter_innen der Kirche so beeindruckt, dass sie ihm Unterstützung anbieten. Man ist ihm dabei behilflich, sich sicher durch Santiago zu bewegen und vor der Diktatur zu verstecken.

Trotz aller Widrigkeiten bleibt Juan sein rebellischer Geist erhalten. Er veranstaltet gemeinsam mit Compañeras und Compañeros in Lokalen und Kirchen am Stadtrand Benefizkonzerte für die Angehörigen der politischen Gefangenen und kocht und sammelt für Hunger leidende Menschen. Dabei hat Juan selbst kaum etwas.

Für die Diktatur erscheinen Menschen mit Gitarre und Flöte noch verdächtiger als bewaffnete Guerilleros. Und wieder einmal entkommt Juan nur knapp der Verfolgung: Bei einem Konzert trägt er ein Lied vor, das Kritik am Militär übt. Im Publikum bemerkt er eine Frau, die ihm Zeichen gibt. Er versteht sie nicht zu deuten. Nach dem Lied wirft Juan einen Blick ins Publikum und erkennt im Hintergrund die Helme von Soldaten. Schnell verabschiedet er sich, wirft seine Gitarre weg und flüchtet über eine Mauer. Mit einem Schlag wird ihm klar, dass die mutige Frau im Publikum ihn warnen wollte.

Nicht mehr und nicht weniger als alle anderen

Im Jahr 1980 – Juan ist inzwischen Vater von zwei Kindern – sieht er überhaupt keine Perspektive mehr in Chile. Seine Familie wird von der Armee belästigt, und dem Widerstand im Untergrund gelingt es nicht, adäquate Antworten auf die Repression zu finden. Die Massenproteste, die letztlich dazu beitragen werden, die Diktatur zu Fall zu bringen, beginnen erst drei Jahre später. Um seine Kinder zu schützen und weil er keinen Handlungsspielraum mehr sieht – außer «auf die Haft zu warten» –, flieht Juan aus Chile und sucht in Österreich um Asyl an. Neben musikalischen Arbeiten für das Fernsehen tritt Juan nun auf Festivals auf. Er fängt an, mit Jugendlichen zusammenzuarbeiten, bringt ihnen die Musik näher und unterrichtet sie an verschiedenen Instrumenten. Bald gehen Musikgruppen wie «Lican Antai» oder die «Musikwerkstatt Mallarauco» daraus hervor, mit denen er unzählige Konzerte bestreitet, sowie die «Notenchaoten», die lateinamerikanische Musik mit deutschen Texten verbinden. Überhaupt sieht sich Juan als Brückenbauer zwischen Südamerika und Österreich und gibt gerne Konzerte mit chilenischen und österreichischen Einflüssen.

Heute trägt Juan als Obmann des Centro Once, des Stadtteilzentrums in der Simmeringer Schneidergasse, dazu bei, dass dieses Kulturzentrum zu einem Ort wird, an dem Menschen gleich welcher Herkunft dabei unterstützt werden, Kunstprojekte umzusetzen – mit möglichst geringem finanziellem Aufwand. In Österreich, wo Juan mittlerweile länger lebt als in Chile, fühlt er sich wie in seinem «Habitat», mit allen Vor- und Nachteilen. Das ist nicht immer so gewesen. Nicht nur hat er bei seiner Flucht aus Chile all seine Freund_innen zurücklassen müssen, seine neue Umgebung ist für ihn auch wie ein Kulturschock: Alles scheint hier schon gemacht und gut zu laufen. Juan muss sich also erst auf die Suche nach einer Aufgabe in der Gesellschaft machen. Und er entdeckt sie bald: Zusammen mit anderen Musiker_innen besucht er regelmäßig Krankenhäuser und Altersheime, um den Menschen dort eine Freude zu bereiten. Natürlich kostenlos, denn Juan hätte ein schlechtes Gewissen gehabt, dafür Geld zu verlangen, sagt er. Seine materielle Situation ist nicht gerade rosig, aber auf dieser Ebene möchte er sich ohnehin nicht mit anderen Menschen verglichen wissen. Juan begegnet anderen Menschen auf gleicher Augenhöhe und er erfährt in seinem Umfeld die gleiche respektvolle Behandlung. Trotzdem weiß er, dass das in Österreich keine Selbstverständlichkeit ist und Menschen aus Afrika oder Afghanistan auch weniger angenehme Erfahrungen im Alltag machen. Für Juan gehört aber genau dieses Gefühl – nicht mehr und auch nicht weniger als alle anderen zu sein – unbedingt dazu, um sich in einem neuen Land wohl zu fühlen.

Gerade von anderen Künstler_innen erfährt Juan eine große Freundlichkeit und Zuneigung. Und dies trägt wohl auch dazu bei, dass er Österreich als sein «Habitat» erlebt. Der Antrag auf die österreichische Staatsbürgerschaft vor drei Jahren ist für Juan nur noch eine Formalität. Er denkt lange Jahre gar nicht an diese Option oder etwaige Vorteile und lässt sich schließlich von Freund_innen dazu überreden: «Mach das», reden sie ihm zu, «es ist genug, du bist schon von da, mach die Staatsbürgerschaft.» Jetzt, wo er die Staatsbürgerschaft hat, die seinen Flüchtlingsstatus beendet, ist es ihm auch offiziell erlaubt, nach Chile einzureisen.

Wenn er Chile besucht, um seine Mutter und Freund_innen zu treffen, dauert es jedes Mal ein bisschen, bis Juan sich wieder akklimatisiert hat. «Ach Juan, du wurdest in Österreich germanisiert», scherzen seine Freund_innen gerne, wenn er mal wieder pünktlich auf die Minute zu einem Treffpunkt kommt und dann lange warten muss, bis die anderen nach und nach eintrudeln.

Centro Once, Schneidergasse 15, 1110 Wien

Facebook: Centro Once Austria