Zuhause in der Haltestelletun & lassen

Wie viel Intimität geht sich im öffentlichen Raum aus?

Die eine macht für zwei Wochen ein Kunstprojekt, der andere hat sich schon vor zwei Jahrzehnten hier eingerichtet. Zwei Menschen, die die Bushaltestelle zu ihrem Wohnort gemacht haben, haben mit Céline Béal über Intimität und öffentlichen Raum gesprochen. Illustration: Silke Müller

Busse brummen, Straßenbahnen bimmeln, der Regen trommelt auf das Dach des Buswartehäuschens am Wallensteinplatz. Der 5A stoppt. Die Wartenden steigen ein. Der Bus fährt weg, eine Frau bleibt da. Sie sitzt hinter der rückwärtigen Glaswand der Haltestelle, in einem zweiten Häuschen, das dem ersten architektonisch so ähnlich ist, als wäre es ein Teil davon. Für zwei Wochen wohnt die Künstlerin Barbara Ungepflegt hier. Ihr temporäres Zuhause hat eine kleine Plastiktür, die sie gerade öffnet, um Menschen zu empfangen.

Zuhause ist, wo der Kaffee duftet.

Innen nimmt ein grünes Sofa fast die Hälfte des Platzes ein. Bücher, Fotos, ein Radio füllen ein blaues Bücherregal. Auf dem rosaroten Teppich hat gerade ein Besucher einen Pflanzentopf umgestoßen, die Erde ist verschüttet. Plakate hängen an den Wänden. Feuchtigkeitscreme, Kochlöffel, italienische Kekse und Klopapier gibt es hier auch. Auf der anderen Seite der Glasscheibe warten wieder Menschen auf den nächsten Bus. Es duftet leicht nach dem Kaffee, der auf einer kleinen Elektroplatte kocht. «Möchten Sie auch einen?», fragt mich Barbara Ungepflegt. Die Hausherrin trägt eine pinke Pelzmütze auf ihrem langen blonden Haar.

Der Welser Bahnhofsvorplatz wiederum ist am Sonntag in der Früh menschenleer. Der Wind weht, aber es bewegt sich kaum etwas. Hier gibt es wenige Pflanzen, kein einziges Stück Papier liegt am Boden. In einer der vier gläsernen Bushaltestellen stehen zwei Einkaufswägen voller Säcke und Kartons, aus denen Zeitungen und Plastikflaschen herausragen. In der gegenüberliegenden Ecke des Häuschens, auf einer der zwei Holzbänke, stapeln sich weitere Kartons, deren Inhalt unter einer hellgrünen Decke verborgen ist. Auf den Wänden der Haltestelle werben zwei große Plakate für eine Biermarke und ein Möbelhaus.

In der Trafik am Bahnhof sagt die Verkäuferin, den Besitzer der Kartons in der Haltestelle hätte ich gerade verpasst. Im Café oben empfiehlt die Kellnerin, ins Café unten zu schauen. Im Café unten erkenne ich erst einmal niemanden. Dann sehe ich ihn doch. Er ist zwar massiv gebaut, aber mit seiner dicken grauen Jacke fällt er vor dem grauen Hintergrund der Bahnhofsmauer kaum auf. Er sitzt in einer Ecke, von einer Glastür beinahe verdeckt. Rudolf Wimmer blättert durch einen Stapel Lotterie-Tickets. Ein leeres Glas steht vor ihm. «Kann ich Sie auf einen Kaffee einladen?», frage ich ihn. «Sie können sich gern zu mir setzen», antwortet er, «aber ich lade Sie ein.»

Frei wie ein geduldeter Vogel.

«Wa­rum wohnen Sie in dieser Bushaltestelle?» Barbara Ungepflegt klopft die Erde von ihrem rosa Teppich. «Weil ich den Leuten das Warten verkürzen möchte», antwortet sie zuerst. Als Konzeptkünstlerin hat sie sich natürlich mehr Gedanken als diese gemacht. Sie erzählt von Immobilienfirmen, die ganze Gebäude kaufen, die sie dann an Tourist_innen über die Internetmietplattform Airbnb anbieten, und von Obdachlosen, für die es keine Wohnungen gibt. Auf das wachsende Gefälle zwischen Arm und Reich möchte sie aufmerksam machen. Ihre Überlegungen drehen sich außerdem um die Privatsphäre im Zeitalter der sozialen Netzwerke. «Was macht das mit Menschen, wenn sie alles über sich veröffentlichen?», fragt sie. Ihre Installation in einem Glashaus mitten auf einem lebendigen Platz hat also auch einen theatralischen Charakter, «wie eine Guckkastenbühne», sagt Barbara Ungepflegt, die auch einen Lehrgang für angewandte Dramaturgie an der Wiener Universität für Musik und darstellende Kunst gegründet hat. «Hier ist es wie ein Live-Facebook. Ich stelle mich auch aus, aber ich gehe einen Schritt weiter, indem ich mich nicht hinter einer Bildschirmoberfläche verstecke. Die Passanten können wirklich hereinkommen.»

Von der anderen Seite der Glasscheibe starrt sie gerade ein Kind an. «Meistens ist mir der Blick von den Menschen draußen gar nicht so unangenehm», meint sie. «Weil ich ja auch sehr direkt zurückblicke. Dann trauen sie sich nicht mehr, oder sie sind begeistert und kommen rein.» Mit ihren mächtigen blauen Augen beobachtet die Künstlerin auch den ganzen Tag, was die Menschen draußen machen: «Es ist wie ein Fernseher», sagt sie.

«Ich hätte gerne eine Wohnung mit einem Fernseher im Wohnzimmer», träumt Rudolf Wimmer. Warum er stattdessen in einer Haltestelle wohnt, möchte ich wissen. Der Dreiundsechzigjährige erzählt von geschiedenen Eltern, einer verlorenen Fabrikarbeit, einer vorübergehenden Entmündigung; von feindlich gesinnten Verwandten und einer Mindestpension, die für ein anderes Leben nicht reichen würde. Zu einer Notschlafstelle will er definitiv nicht. Denn «dort bist du abhängig, du wirst überwacht. Die Vögel sind ja auch draußen. Darum heißt es auch ‹freier Mensch›.»

Dem freien Menschen Wimmer machen allerdings Polizei und Ordnungswache der ÖBB zu schaffen, die ihn manchmal in der Nacht aufwecken und ihm verbieten, Radio zu hören. Mit seinem Dosenbier vom Spar darf er sich auch nicht erwischen lassen. Aber «seine» Bushaltestelle hat er gerade darum ausgesucht, weil sie ein bisschen mehr Privatsphäre bietet als die anderen am Platz. Urbanes Gebüsch hinter der hinteren Glaswand schützt ihn ein bisschen vor dem Blick der Passant_innen.

ÖBB oder Polizei: Wer ist dein Hausherr, wenn du in einer Bushaltestelle wohnst? Rudolf Wimmer hat sich vor 22 Jahren hier niedergelassen. Er ist also länger da als das Bahnhofgebäude, dass 2005 neu gebaut worden ist. Seines Erachtens verdient er sich das Recht, da zu sein, dadurch dass er den Platz jeden Tag zusammenräumt. Am ÖBB-Infoschalter bestätigt ein Herr mit perfekt gebügeltem Hemd: «Der Rudi, der wird halt geduldet. Haben Sie ja gesehen, wie sauber es bei ihm ist.» Und er lacht. Ach so, geduldet.

Ruhe für die Psyche.

Ursprünglich wollte Barbara Ungepflegt für ihr Projekt direkt in einer echten Bushaltestelle wohnen. Das sei aber nicht genehmigt worden. Am Telefon erklärt die Pressesprecherin der Wiener Linien, als Betreiber hätte ihr Unternehmen keine Kompetenz, diese Erlaubnis zu erteilen. Ich soll mich an die Gewista wenden, die Werbefirma, die diese Art von Haltestellen besitzt. Die Gewista sagt, sie habe nichts mit der Genehmigung zu tun, ich solle bei den Wiener Linien fragen.

Die städtischen Verkehrsbetriebe haben auch keine Kompetenz, Menschen von den Haltestellen zu vertreiben, sagen sie mir. «Es ist schlussendlich öffentlicher Raum», sagt eine Pressesprecherin. Diese Häuschen seien für die Wartenden gebaut, so ihr Gewista-Kollege. «Unsere Bänke sind sowieso sehr schmal, nur ein kleines Kind könnte sich da hinlegen.» Ob das absichtlich so gebaut ist? «Wir sind ja kein soziales Heim», antwortet er, «sonst könnte man es mit einer Couch und einem Fernseher auch noch gemütlicher machen, aber das müsste ein anderer finanzieren!» Und wer weiß, wo die Erlaubnis dafür bekommen … Um auf der Straße neben der Haltestelle ihre Struktur zu bauen, hat die Künstlerin am Ende die Erlaubnis von der Bezirksvorstehung eingeholt. Und von der Magistratsabteilung 36. Und der MA 19, der MA 28, der MA 11 und der MA 46.

Nach zwei Wochen kehrt Barbara Ungepflegt zurück in ihre Wohnung. Das Leben am Wallensteinplatz wird sie zum Teil vermissen. Aber nicht die zugigen, rauen Nächte, in denen Männer mit eindeutigen Vorstellungen immer wieder an ihrer Tür geklopft haben. «Ich hatte einen Vorhang, den ich zumindest zuziehen konnte. Andere Menschen haben das nicht.» Die bunt gekleidete Frau wird ernst: «Ich hätte einen Appell für ein Recht auf Intimsphäre, damit Obdachlose für mehrere Stunden am Tag einen Ort haben, der durch Wände geschützt ist. Keine Ruhe zu haben, das macht was mit deiner Psyche.»

Rudolf Wimmer hat den Eindruck, er kann seine Intimität besser in einer Bushaltestelle als in einer Notschlafstelle schützen. «Was fehlt Ihnen, um glücklich zu sein?», frage ich ihn. «Ich hätte schon drei Wünsche … aber die sage ich nicht», antwortet er. Auch wenn deine Habe in einer Bushaltestelle liegt, kannst du immer noch eine Decke drauflegen. Und auf deine Gedanken ebenso. Hoffentlich ist es eine dicke Decke, denn der Winter kommt.

Céline Béal arbeitet in Wien als Auslandskorrespondentin für verschiedene französische Medien.